Epidemiologie ist eine Wissenschaft und Krisenmanagement eine hohe Kunst

2020-05-15 08:58:00

Können Sie sich vorstellen, dass in Berlin alle 3,6 Milionen oder in New York alle 8,4 Millionen Einwohner auf das neuartige Coronavirus in kurzer Zeit getestet werden? Ich nicht und ich rechne auch nicht damit. Wenn aber bald alle 11,9 Millionen Wuhaner innerhalb von zehn Tagen getestet werden sollen, wie gerade berichtet wurde, überrascht mich das nicht. China ist dafür bekannt, dass es bei der Epidemiebekämpfung keine halben Sachen macht. China will alle Daten sammeln, die nötig sind, um das Virus, seine Verbreitung sowie alle ergriffenen Maßnahmen vernünftig bewerten zu können. Die Chinesen möchten aus der Krise möglichst viel lernen, um noch schneller und besser reagieren zu können, falls es irgendwann nötig sein sollte.

Halbherzigkeit, Chaos oder Selbstgerechtigkeit verhindern dagegen solche Lernerfolge. Eine Studie sollte man ja auch nicht nach der Hälfte der Zeit abbrechen, nur, weil rauskommen könnte, dass das untersuchte Medikament gar nicht wirkt.

Die Epidemiologie ist und bleibt eine Wissenschaft, auch, wenn es einige Politiker vergessen haben sollten. Und Wissenschaft braucht neben Systematik und Transparenz auch Freiheit. Die Politik muss auf die wissenschaftlichen Ergebnisse mit den entsprechenden Maßnahmen reagieren. Nicht umgekehrt. Erzwungene Gefälligkeitswissenschaft ist genauso gefährlich wie die Politisierung der Pandemie.

Während einer anfangs oft schwer berechenbaren Krise ist eine offene und flexible Politik am erfolgreichsten. Die Tatsache, dass China das sehr gut beherrscht, hat langjährige aufmerksame Beobachter der Volksrepublik nicht überrascht. Dem einen oder anderen notorischen China-Kritiker hat dies vielleicht etwas zu denken gegeben. Denn wurde nicht immer eher Amerika diese Beweglichkeit und Erneuerungskraft zugeschrieben?!

Auch als es erst wenige Daten zum neuartigen Coronavirus gab, mussten trotzdem angesichts der Extremsituation in Wuhan Entscheidungen getroffen werden, die sich dank einer guten Mischung aus wissenschaftlicher Expertise und gesundem Menschenverstand zumeist als sinnvoll erwiesen. China teilte seine Erfahrungen rasch mit der Welt.

Als China sich und der Welt mit extremen Maßnahmen wichtige Zeit erkauft hatte, konnte es vermehrt zu feineren Mitteln greifen: mehr Tests auf das Virus und auf Antikörper, Studien, Innovationen in der Epidemiebekämpfung am laufenden Band und sogar Hilfe für andere Länder. Es war nun auch Zeit, Maßnahmen zu ändern oder einzustellen. Chinas Erfolgsrezept bestand auch darin, dass interdisziplinär vorgegangen wurde und unterschiedliche Ansichten in die Entscheidungsprozesse einflossen.

Wessen Hauptziel der Kampf gegen die Epidemie und die Rettung von Menschenleben ist, der folgt nicht stur einer einmal eingeschlagenen Richtung, sondern sucht mit Kompass, Satellit und Drohne nach dem kürzesten und besten Weg aus der Krise. Wichtig ist auch, das Ganze im Blick zu behalten. Eine kluge Gefahrenanalyse und Folgenabschätzung betrachtet auch die Risiken und Nebenwirkungen der Gefahrenabwehr selbst. Wenn etwa aufgrund zu lange verschobener Operationen bald mehr Menschen sterben als durch Covid-19, wurde bei der Risikoanalyse geschlafen. Und, wenn die Wirtschaft ruiniert ist, kann auch das Gesundheitssystem nicht mehr weiter rund laufen. Die Folgen kann sich jeder selbst ausmalen.

Ich dachte lange, dass Krisenmanagement erlernbar ist. Nachdem ich mitbekommen habe, wie in einigen Ländern wertvolle Zeit durch Vorurteile, Unwissenschaftlichkeit und Hilflosigkeit vergeudet wurde, zweilfle ich daran. Vielleicht ist Krisenmanagement ja doch eine hohe Kunst, die nur wenige beherrschen. Aber es ist noch nicht zu spät. Jeder kann dazulernen. Und da jeder andere Erfahrungen mit oft auch unterschiedlichen Maßnahmen gemacht hat, ist es nur absolut logisch und im Sinne aller Menschen dringend geboten, dass möglichst viele Länder zusammenarbeiten, ehrlich, transparent, sachorientiert.

Schweden ist anders vorgegangen als Deutschland und Amerika, China und Südkorea haben wiederum andere Erfahrungen gesammelt. Damit verglichen werden kann, muss es gemeinsame Standards beim Testen, bei den Autopsien und bei der Datenerhebung geben. Und alles muss ergebnisoffen sein. Erst, wenn man ganze Dörfer oder Städte durchgetestet hat, kann man zum Beispiel eine Aussage über die Sterblichkeitsrate machen. Und erst, wenn man durch Abgleich der statistisch zu erwartenden Todesfälle mit den in Coronazeiten eingetretenen Todesfällen die zusätzlichen Toten ermittelt hat, kann man die Gefährlichkeit der Krankheit beurteilen. Dabei muss man natürlich auch die unterschiedliche Leistungsfähigkeit der Gesundheitssysteme berücksichtigen.

Es geht bei all dem nicht um Politik, es geht nicht um die nachträgliche Rechtfertigung von Maßnahmen, die man ja auch im zeitlichen Rahmen bewerten muss. Nein, es geht ausschließlich um eine wissenschaftlich saubere Analyse. Nur diese nutzt den Menschen und ermöglicht eine bessere Vorbereitung auf zukünftige Katastrophen. Wer Wissenschaftler nicht ihre Arbeit vernünftig machen lässt, verspielt jede Glaubwürdigkeit. In dieser Krise müssen alle zusammenarbeiten, um schnell herauszukommen. Ausnahmesituationen sind keine Ausnahmesituationen mehr, wenn sie ein Jahr oder länger andauern. Das kann keiner wollen. Also packen wir es an, gemeinsam!

Text: Nils Bergemann


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