Ein Foto von Wang Guangqiang nach dem Erdbeben am 12. Mai 2008
Um 14:28 Uhr am Nachmittag des 12. Mai 2008 begann das Schulgebäude der Yanmen-Grundschule in Wenchuan ohne Vorwarnung heftig zu beben. Der elfjährige Wang Guangqiang rannte aus dem Klassenzimmer und stellte fest, dass die Treppe und der Zaun der Schule eingestürzt waren. Er erinnert sich: „Ich habe meine Schuhe verloren. Viele meiner Klassenkameraden haben dann ihre Socken ausgezogen und sie mir als Schuhe gegeben, sodass ich am Ende zwölf Socken an einem Fuß hatte.“ Es ist eines der wenigen Details, die er nach 14 Jahren von der Katastrophe erzählt. Auf dem Sportplatz hat Wang Guangqiang glücklicherweise seinen ein Jahr jüngeren Bruder und seinen Cousin gefunden. Sie verbrachten die erste Nacht aneinander gelehnt im Freien.
Wang Guangqiang und sein Bruder in traditionellen Kleidungen der Qiang-Nationalität
Die meisten seiner Klassenkameraden wurden in den nachfolgenden Tagen von ihren Familien abgeholt. Wang Guangqiang wartete gespannt und besorgt. Am Morgen des fünften Tages kam seine Mutter endlich an, aber das erste, was sie sagte, war: „Deine Tante ist weg, verrat es deinem Cousin nicht.“ Später erfuhr er, dass insgesamt 58 Einwohner seines Heimatdorfes ihr Leben verloren hatten – seine Tante war eine von ihnen.
Auf dem Heimweg kamen sie am Kirschgarten seiner Tante vorbei. Sein Cousin kletterte geschickt auf einen Baum und pflückte im Handumdrehen eine Handvoll roter Kirschen, die er seiner Mutter mitbringen wollte. „Ich konnte mir die Tränen nicht verkneifen und mein Cousin hat es verstanden.“
Wangs eigene Marke namens „Aba Prinz“
Im Alter von 18 Jahren wurde Wang Guangqiang an der Hochschule für Film und Fernsehen Sichuan aufgenommen, an der er Moderation studierte. Bereits an der Uni zeigte er jedoch ein Talent als Geschäftsmann. Er kaufte getrocknetes Rindfleisch – eine Spezialität der Qiang-Nationalität, zu der er gehört – und gründete seine eigene Marke namens „Aba Prinz“.
Nach seinem Uniabschluss wollte Wang sein Geschäft vergrößern. Sein Vater war jedoch sehr wütend, dass er seine Zukunft als Moderator aufgeben wollte. Aber Wang Guangqiang hatte seine eigenen Gründe: Sein Bruder studierte noch am Konservatorium der Pädagogischen Universität Sichuan. Für seine Familie, die sich gerade von der Katastrophe erholt hatte, war es schwierig, zwei Kunststudenten zu finanzieren.
Wang kauft Kirschen von den lokalen Bauern und verkauft sie im Internet.
Wang Guangqiang ging nach Wenchuan zurück, verkaufte aber nicht mehr nur Trockenfleisch, sondern eine Vielzahl an lokalen Agrarprodukten im Internet. Im Jahr 2021 verkaufte er mehr als 200.000 Lebensmittelprodukte auf Gerstenbasis und ebnete damit den Weg für den Verkauf dieses zuvor unpopulären Grobkorns. Neben Kirschen haben sich auch knackige Pflaumen und Äpfel aus Wenchuan in seinem Livestream-Geschäft einen Namen gemacht. Allein 2021 wurden über 150.000 Kilogramm Obst verkauft.
Wang Guangqiang und eine lokale Bäuerin
Die einst zusammenhängenden Umsiedlungshäuser im Katastrophengebiet sind inzwischen verschwunden. An ihrer Stelle erhebt sich heute eine neue Stadt aus dem Boden und ein neues Leben, das allmählich immer mehr an Stabilität gewinnt, hat begonnen. Die Luft scheint nicht mehr nach Trauer und Elend zu riechen und die Spuren des Erdbebens sind verblasst. Viele junge Menschen wie Wang Guangqiang sind aus den Großstädten in ihre Heimat zurückgekehrt und werden allmählich zu den neuen Herren des Landes.
Egal wo er auch ist, Wang Guangqiang kehrt jedes Jahr am 12. Mai nach Wenchuan zurück, um das alte Qiang-Dorf zu besuchen und die zusammengebrochenen Häuser zu sehen. „14 Jahre sind vergangen und die Kirschen werden wieder rot“, sagt Wang Guangqiang, der bald die Geburt seines ersten Kindes feiern wird.