Die Erwartungshaltung vor dem Gipfelgespräch der Europäischen Union mit Chinas Führung unter Xi Jinping in Beijing war nicht allzu groß. Ursula von der Leyen, Josep Borrell, Charles Michel und Kollegen reisten schließlich mit überschaubarer Verhandlungsmasse an.
Man wollte Xi Jinping das EU-Modell des „De-Risking“ erklären, man wollte China „motivieren“, Vladimir Putin und der Hamas gegenüber aggressiver aufzutreten, man wollte über Umweltschutz, über Taiwan und Menschenrechte reden und Beijing die (aus europäischer Sicht) ungerechte Tatsache der stark negativen Handelsbilanz vor Augen führen.
Wieder in Europa angekommen, mussten sich die EU-Granden dann viele Fragen gefallen lassen. Es hagelte Kritik und negative Schlagzeilen.
Wieder sei die EU in China (so der Grundtenor) bloß als (schlecht gelaunter) Bittsteller aufgetreten. Man stehe mit leeren Händen da und sei sich in den wichtigsten Punkten keinen Schritt nähergekommen.
Jene Insider, die sich mit dem Themenkomplex China / EU schon länger (und eben nicht nur alle heiligen Zeiten) auseinandersetzen, waren über all das kaum überrascht. Deshalb nicht, weil . . .
. . . die EU in ihrer existenziellsten Krise seit Jahrzehnten steckt. Ein halbes Jahr vor den EU-Wahlen (nach denen kein Stein in Europa auf dem anderen bleiben wird) sieht sich die EU-Spitze um Ursula von der Leyen mit gravierenden Korruptionsvorwürfen konfrontiert, mit einer In-Homogenität in höchsten Maßen, mit einer täglich wachsenden Unzufriedenheit in den EU-Ländern und mit einer schrumpfenden Wirtschaftsleistung in zahlreichen Mitgliedsländern wie zum Beispiel Deutschland.
Die Europäische Union ist seit Monaten in erster Linie mit sich selbst beschäftigt und wer auch immer in Zeiten wie diesen den EU-Spitzen in Verhandlungen gegenübersitzt, kann davon ausgehen, dass diese in einem halben Jahr (politische) Geschichte sein werden. Das entgeht natürlich auch den Gesprächspartnern in China, in den USA und in Lateinamerika nicht.
Das Jahr 2024 wird in zahlreichen Ländern und in vielerlei Hinsicht ein Jahr der Weichenstellungen und die EU wird zunächst einmal ihre Hausaufgaben erledigen - sprich, sich von Grund auf erneuern müssen - um im Wettbewerb um die globale Neuordnung noch irgendeine Rolle spielen zu können. Derzeit haben China und die USA die Hände an den Schalthebeln und die künftige Bedeutung der EU wird in erster Linie davon abhängen, wie die Aufräumarbeiten des Jahres 2024 verlaufen werden.
Aber nicht nur personell und strukturell wird eine Re-Vitalisierung der EU unausweichlich sein, auch programmatisch und vor allem im Umgang mit China wird man in der bisher gelebten Form nicht weitermachen können. Ein Beispiel: Wenn ich (von Seiten der EU) zum einen die stark negative Handelsbilanz mit China beklage und zum anderen laut darüber nachdenke, den Export von bestimmten High-Tech-Produkten nach China zu unterbinden, wird sich das am Ende des Tages nicht ausgehen.
Die neue EU-Führung wird vor allem eines akzeptieren, verstehen und leben müssen: China ist kein systemischer Rivale (wie manche fälschlicher Weise meinen), sondern Partner. Ein Partner, dessen Hand sicher ausgestreckt bleiben wird.
MARTIN SÖRÖS, FREIER JOURNALIST AUS ÖSTERREICH