Es war gewissermaßen eine Selbstverständlichkeit, eine unumstößliche Tatsache: Das Land mit der höchsten Bevölkerungszahl ist China. Dementsprechend hat es Erstaunen und Verwunderung hervorgerufen, als nunmehr die Nachrichtenagenturen meldeten: Laut dem Jahresbericht des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen dürfte Indien China bis Mitte dieses Jahres als bevölkerungsreichste Nation der Welt ablösen. Den Angaben zufolge leben in Indien dann fast drei Millionen Menschen mehr als in der benachbarten Volksrepublik China. Und ergänzend hierzu: Aus einem statistischen Bulletin des chinesischen Statistikamtes geht hervor, dass die Bevölkerung Chinas Ende 2022 um 850 000 Personen niedriger ist als im Jahr 2021. Mit anderen Worten: Die Bevölkerungszahl China ist nicht mehr gewachsen, sie ist sogar geschrumpft.
Dies wirft naturgemäß die Frage auf: Was bedeutet dies für China? Nun, zunächst einmal sagen die Vereinten Nationen voraus, dass die Bevölkerung der meisten Länder bis zum Ende dieses Jahrhunderts in eine negative Wachstumsphase eintreten wird. Und bei der Wahrnehmung derartiger Wandlungsprozesse sprechen Demografen und Ökonomen von einer „demografischen Dividende“. Dieser Begriff bezeichnet den möglichen wirtschaftlichen Nutzen, der sich durch die entwicklungsbedingte Veränderung der Altersstruktur eines Staates erzielen lässt. Geprägt ist dieser Zugewinn nach den Maßstäben der OECD durch folgende Kriterien:
1. einen quantitativ und qualitativ hoher Bildungsstand,
2. einen Arbeitsmarkt mit geringer Arbeitslosigkeit,
3. ein geeignetes makroökonomisches Umfeld,
4. eine Öffnung nach außen und
5. einen hohen sozialen Zusammenhalt.
Legen wir diesen Maßstab auf China an, so kommt keinerlei Zweifel auf, dass es nach allen diesen Maßstäben eine (positive) demografische Dividende aus dieser Entwicklung ziehen wird.
Aber werfen wir noch einen besonderen Blick auf das erstgenannte Kriterium, den quantitativ und qualitativ hohen Bildungsstand. Hierfür haben Demografen und Ökonomen inzwischen den Begriff „Talent Dividende“ entwickelt. Und dieser besagt: Je höher die Zahl der akademischen und überhaupt qualifizierten Abschlüsse auf einem Gebiet ist, um so höher ist der wirtschaftliche Erfolg. Und auch hier stehen vor dem Hintergrund der hohen Investitionen Chinas in Bildung und Ausbildung alle Signale auf Grün.
Aber nochmals zurück zur demografischen Dividende selbst: Langfristig wird diese nur erhalten bleiben, wenn die Bevölkerung nicht eines Tages „überaltert“. Und auch dies hat China im Blick: Es setzt nämlich eine nationale Strategie um, um aktiv auf die alternde Bevölkerung zu reagieren. Und zwar dadurch, dass es eine Drei-Kind-Politik mit unterstützenden Maßnahmen fördert, um aktiv auf den demografischen Wandel zu reagieren.
Dr. jur. Michael Borchmann
Ministerialdirigent a.D. (Land Hessen), früherer Abteilungsleiter (Director General) Internationale Angelegenheiten
Mitglied des Justizprüfungsamtes Hessen a.D.
Senior Adviser der CIIPA des Handelsministeriums der VR China