Yang Wuneng: Ohne das Neue China hätte ich das nie erreichen können

2021-11-25 11:20:10

Auf die Welt kam er als Enkel eines Bauern und Sohn eines einfachen Arbeiters. Nun im Alter von 83 Jahren ist Yang Wuneng schon lange einer der renommiertesten Übersetzer deutscher Literaturklassiker. Wie ist ihm diese erstaunliche Karriere gelungen? Ein Interview bei dem „hochbetagten Meisterübersetzer“ in Chongqing.

„Ich bin der Enkel eines Bauern und der Sohn eines einfachen Arbeiters. Doch dank der Entstehung der Volksrepublik China konnte ich mich vom Schulabbrecher zu einem Übersetzer mit moderatem Erfolg entwickeln“, erzählte der bekannte chinesische Übersetzer deutscher Literatur Yang Wuneng, auch bekannt unter dem Pseudonym „Bashu Yiweng" in einem Interview mit China.org.cn.

Die Entwicklung eines Jungen zum erfolgreichen Übersetzer

Der mittlerweile 83-jährige Professor ist einer der renommiertesten Übersetzer deutscher Literatur im chinesischsprachigen Raum. Seine Leistung ist wie ein dortiges Sprichwort besagt: Nimmt man all seine gesammelten Übersetzungen zusammen, sind sie so groß wie er selbst. Zu seinen wichtigsten Übersetzungen zählen u.a. „Faust“, „Die Leiden des jungen Werther“, „Grimms Märchen“, „Immensee“ oder „Der Zauberberg".

Als Träger des Bundesverdienstkreuzes erhält Yang Wuneng nach der Preisverleihungszeremonie zahlreiche Glückwünsche. (Foto mit freundlicher Genehmigung von Yang Wuneng)

Yang beschäftigt sich seit mehr als 60 Jahren mit der Übersetzung deutscher Literatur und hat mehr als 30 Werke mit insgesamt über 10 Millionen Wörtern veröffentlicht. Außerdem wurde er vom damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau mit dem Bundesverdienstkreuz „in Anerkennung seiner besonderen Verdienste um die Bundesrepublik Deutschland“ und mit der „Goldenen Goethe-Medaille“ - der weltweit höchsten Auszeichnung im Bereich der Goethe-Forschung – ausgezeichnet.

Yang Wuneng (3. v. l.) auf der Zeremonie zur Verleihung des „Preis für das Lebenswerk für Übersetzungskultur“ vom Chinesischen Übersetzerverband. (Foto mit freundlicher Genehmigung von Yang Wuneng)

Im Jahr 2018 erhielt Yang zudem den „Preis für das Lebenswerk für Übersetzungskultur“ vom Chinesischen Übersetzerverband. Noch heute freut er sich sehr darüber, die höchste Auszeichnung in Chinas Übersetzungsbranche gewonnen zu haben und von seinem Land auf diese besondere Weise gewürdigt worden zu sein: „Dies ist das beste Geschenk von allen, die ich zu meinem 80. Geburtstag erhalten habe.“ Danach gefragt, wie es eigentlich dazu kam, dass er sich der Übersetzung deutscher Literatur widmete, fällt ihm dazu als erstes die Floskel „Glück im Unglück“ ein.

Das Foto zeigt einen Ringkampf an der Nanjing-Universität im Jahr 1958. Der gerade erst mit dem Deutschstudium angefangene Yang Wuneng (3. v. r. in der 1. Reihe), der eine Hose mit großen Flicken trug, war dabei der Schiedsrichter. (Foto mit freundlicher Genehmigung von Yang Wuneng)

Yang wurde 1938 in einer armen Gegend im südwestchinesischen Chongqing geboren. Nach der Gründung der Volksrepublik im Jahr 1949 bekam der Schulabbrecher doch noch die Möglichkeit, die Mittelschule zu besuchen. Zu diesem Zeitpunkt setzte sich der Junge das Ziel, Elektroingenieur für das Drei-Schluchten-Wasserkraftwerk zu werden. Als er jedoch die Unterstufe der Mitschule abschloss, fiel der Bericht seiner medizinischen Untersuchung ernüchternd aus: Bei Yang wurde eine Farbschwäche erkannt, als Konsequenz durfte er anstatt Natur- und Ingenieurswissenschaften nur Geisteswissenschaften studieren. Sein kurzer Traum, Elektroingenieur zu werden, löste sich also in Luft auf.

In der Oberstufe ließ sich Yang von seinem Russischlehrer inspirieren und entwickelte einen neuen Traum: Übersetzer russischer Literatur zu werden. Nach dem Abitur ging er an die in Chongqing ansässige Fachhochschule für die russische Sprache. Doch später verschlechterten sich die chinesisch-sowjetischen Beziehungen drastisch, woraus ein Überangebot an Russisch-Übersetzern in China resultierte. 1957 musste er schließlich an die Universität Nanjing wechseln, um dort Deutsch zu studieren.

„Shijie Wenxue“ (heute „World Literature“) aus dem Jahr 1962. Während seiner Studienzeit konnte Yang schon drei Übersetzungsarbeiten in der damals einzigen Zeitschrift für ausländische Literatur in ganz China veröffentlichen. (Foto mit freundlicher Genehmigung von Yang Wuneng)

Dieser Wechsel stellte einen wichtigen Wendepunkt im Schicksal von Yangs Leben dar. In Nanjing traf er auf Ye Fengzhi, der zu einer Art Mentor für ihn in der Übersetzung deutscher Literatur wurde. Mit dessen tatkräftiger Unterstützung veröffentlichte der noch nicht einmal graduierte Yang schon während seiner Studienzeit drei Übersetzungen in der Zeitschrift „Shijie Wenxue“ (heute „World Literature“), der damals einzigen Zeitschrift für ausländische Literatur in ganz China. „So ganz zufällig bin ich also in der Übersetzungsbranche gelandet“, berichtet Yang im Interview.

Ye Fengzhi, Yang Wuneng und Feng Zhi(v. n. r.)in München. Yang und seine zwei Lehrer machen eine Reise in die bayerische Hauptstadt, nachdem sie in Heidelberg an einem internationalen Symposium teilgenommen haben. (Foto mit freundlicher Genehmigung von Yang Wuneng)

1978, der 40-jährige Yang war gerade Lehrer an der Sichuan International Studies University, erlaubte China wieder die weiterführende Universitätsausbildung. Obwohl der Druck hoch war, hielt er ihm stand, überwand zahlreiche Hindernisse und bestand erfolgreich die Aufnahmeprüfung der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften. Damit konnte er sich unter der Anleitung des berühmten chinesischen Germanisten und Dichters Feng Zhi weiter auf deutsche Literatur spezialisieren. Dieses Aufbaustudium war für ihn nicht einfach nur eine Chance, sondern ein großer Schritt nach vorne. Nur drei Jahre später wurde seine Übersetzung von „Die Leiden des jungen Werther" veröffentlicht und Yang war plötzlich in der Welt der deutschen Literaturübersetzungen berühmt.

Einige Auflagen des von Yang Wuneng ins Chinesische übersetzten „Die Leiden des Jungen Werther“. (Foto mit freundlicher Genehmigung von Yang Wuneng)

In der Tat hatte Guo Moruos (1892-1978: chinesischer Schriftsteller, Übersetzer und Politiker) Übersetzung aus den 1920er Jahren die chinesischen Leser schon auf Goethes „Werther" aufmerksam gemacht und gute Reaktionen erhalten. Yang glaubt allerdings, in den 1980er Jahren hätten sich die Sprachgewohnheiten der Chinesen mittlerweile stark verändert, weshalb Guos Übersetzung nicht mehr zeitgemäß genug klang. Also habe er sich entschlossen, Goethes Klassiker neu zu übersetzen. Er gibt unumwunden zu, dass er großen Druck verspürt habe, mit seiner Übersetzung dem Vergleich mit dem renommierten Guo standhalten zu müssen. Aber das Ergebnis scheint ihm letztlich Recht gegeben zu haben: Durch seine Übersetzung erfreute sich der „Werther“ abermals großer Beliebtheit in China. Die 80.000 Exemplare der Erstausgabe waren schon kurz nach Erscheinen ausverkauft, weshalb es mehrere Neuauflagen gab. Laut unvollständigen Statistiken übersteigt die Gesamtzahl der Kopien dieser Übersetzung mittlerweile 1 Million Exemplare.

Nach dem „Werther" übersetzte Yang auch noch Goethes „Faust", Thomas Manns „Der Zauberberg“ und viele weitere berühmte Werke und schuf damit in China ständig neue Begeisterung für diese alten deutschen Werke. Die von ihm übersetzte „Gesamtsammlung der Grimmschen Märchen" stellt die erste vollständige Übersetzung nach der Gründung der Volksrepublik dar. Im Juni 2018 enthielt der von CCTV News veröffentlichte Sonderbericht über „Xi Jinpings Bücherschrank“ unter anderem auch den von Yang übersetzten „Faust".

Im April dieses Jahres gab der traditionsreiche chinesische Verlag Commercial Press (CP) den Band „Yang Wunengs Übersetzungen von deutschen Klassikern" heraus, der über 25 deutsche Literaturklassiker aus verschiedenen Epochen enthält. Ein solch umfassendes Sammelwerk ist in der Branche der deutschen Literaturübersetzung bislang beispiellos.

Yang sagte: „Ich möchte ein Fortführer der guten Tradition und zugleich ein Innovator bei der Übersetzung sein. Nur durch Innovationen in der Weitergabe der guten Tradition kann das Übersetzungswesen unseres Landes immer besser werden."

„Deutschland ist meine geistige Heimat“

Im Interview mit China.org.cn machte Yang klar: „Deutschland ist meine geistige Heimat." Seit Jahrzehnten übersetzt er nun schon nicht nur die Werke vieler berühmter deutscher Schriftsteller ins Chinesische, er forscht auch als Wissenschaftler zur deutschen klassischen Literatur und bringt sie dem chinesischen Publikum näher.

Einige Auflagen des von Yang Wuneng ins Chinesische übersetzten „Faust“ von Goethe. (Foto mit freundlicher Genehmigung von Yang Wuneng)

Bereits in seinem Aufbaustudium wählte der Germanist „Goethe und China" als den Schwerpunkt seiner Forschung. Später veröffentlichte er Monographien wie „Goethe in China". 1999 erschien von ihm als Herausgeber passend zu Goethes 250. Geburtstag dann die vierzehnbändige Reihe „Goethes Gesammelte Werk" - das größte, systematischste und eindrucksvollste Ergebnis der damaligen Studien und Übersetzungen von Goethes Werken in China.

Yang merkte im Gespräch auch an, dass Goethe zwar nie einen direkten Kontakt zu China hatte, aber durch die Lektüre relevanter Bücher trotzdem in gewissem Maße von der chinesischen Kultur beeinflusst worden sei. Andersherum hätten sich Goethes Werke auch bis nach China verbreitet, was wiederum Auswirkungen auf die chinesische moderne Literatur hatte."

Neben Goethe forschte Yang auch über andere deutsche Schriftsteller wie Friedrich Schiller, Heinrich Heine, Thomas Mann oder Hermann Hesse. Für ihn stellt die literarische Übersetzung eine Art „statische Form der kulturellen Kommunikation“ dar. Neben seinen Übersetzungen und der wissenschaftlichen Forschung beschäftigt er sich aber auch mit „dynamischer Kommunikation“. 1982 wurde Yang nach Heidelberg eingeladen, um dort am Symposium der Goethe-Gesellschaft teilzunehmen. Im folgenden Jahr gewann er für sein Forschungsprojekt „Goethe in China" eine Postdoc-Stelle an der Humboldt-Universität und studierte anschließend lange Zeit in Deutschland.

Yang Wuneng (links) führt ein Interview mit dem WDR im Jahr 1985. (Foto mit freundlicher Genehmigung von Yang Wuneng)

1985 veranstaltete die Sichuan International Studies University unter der Leitung von Yang das Symposium „Schiller und China“. Dies war damals das erste wirklich große internationale wissenschaftliche Seminar, das in China zu fremdsprachiger Literatur abgehalten wurde. Selbst der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl wurde darauf aufmerksam. Darüber hinaus traf Yang auch zweimal den deutschen Nobelpreisträger Günter Grass.

Yang Wuneng trifft sich mit Günter Grass im Europäischen Übersetzer-Kollegium im Jahr 2004. (Foto mit freundlicher Genehmigung von Yang Wuneng)

Yang ist der Meinung, dass „der kulturelle Austausch in beide Richtungen erfolgen sollte, [Inhalte] sollten also nicht nur hereinkommen, sondern auch herausgehen." Derzeit fördert er mit dem Chongqing Research Center for International Exchange aktiv den wechselseitigen Austausch zwischen der chinesischen und den ausländischen Kulturen. Diese Plattform basiert auf den intellektuellen Ressourcen von Übersetzern und Wissenschaftlern, um fokussiert Forschungsarbeiten und Projekte im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit durchzuführen. In diesem Rahmen werden zum Beispiel mehrsprachige Übersetzungen veröffentlicht und herausragende Dramen im Ausland auf die Bühne gebracht. Auf diese Weise wird Chongqings lokale kulturelle „Soft Power“ gestärkt.

Yang Wuneng hält eine Rede bei der Eröffnung der Bashu Yiweng-Archiv in der Bibliothek Chongqing. (Foto mit freundlicher Genehmigung von Yang Wuneng)

„Bashu Yiweng": Meine Legende ist eine chinesische Legende

Im hohen Alter gab Yang sich selbst das Pseudonym „Bashu Yiweng" - was ungefähr als „hochbetagten Meisterübersetzer aus Bashu“ übersetzt werden kann (Bashu ist der alte Name von Chongqing und Sichuan in Südwestchina) -, um damit die Dankbarkeit gegenüber seiner Heimat auszudrücken.

Das Leben in der Region Bashu habe einen sehr großen Einfluss auf ihn gehabt, verriet er China.org.cn. Aufgewachsen in dieser gebirgigen Region habe Yang sich einerseits schon in seiner Kindheit für das Bergsteigen fasziniert, wodurch er seine Ausdauer trainiert und einen zähen Charakter entwickelt habe. Andererseits florierte auch die literarische Szene in der Region und die Zahl der Talente in diesem Bereich ist beeindruckend. Am meisten bewundert er Su Shi (1037-1101), den Schriftsteller, Kalligraphen, Maler und Politiker aus der Nördlichen Song-Dynastie. „Dank dieses großen kulturellen Schatzes der Bashu-Region war es selbst mir, dem Enkel eines Bauern und Sohn eines einfachen Arbeiters, möglich, Übersetzer zu werden."

Yang Wuneng bei der Einweihung des „Bashu Yiweng-Pavillon" im auf dem Xiannü-Berg erbauten Tianqu Park in Chongqing. Dutzende chinesische Künstler bzw. Schriftsteller sind extra aus aller Welt für die Zeremonie angereist. (Foto mit freundlicher Genehmigung von Yang Wuneng)

Am 16. Oktober 2019 wurde auf dem Wulong-Berg in Chongqing der „Bashu Yiweng-Pavillon" enthüllt. An den Säulen stand geschrieben: „Faust, Grimms Märchen, Der Zauberberg – Eine endlose Geschichte“ und „Übersetzer, Goetheforscher und Schriftsteller – Eine unbeschreibliche Legende.“ Damit werden Yangs wichtigste Erfolge in anschaulicher und prägnanter Weise zusammengefasst.

„Es gibt viele Menschen in meinem Leben, denen ich danken muss, darunter meine Lehrer und Freunde. Sie haben mich zu dem gemacht, was ich bin“, betont Yang bescheiden und dankbar.

„Noch vielmehr möchte ich allerdings meinem Land danken, denn jeder Mensch ist nur ein Teil seiner Gesellschaft. Meine Legende ist daher nicht nur meine persönliche, sondern vielmehr eine chinesische Legende. Ohne das neue China der Volksrepublik gäbe es auch keinen ‚Bashu Yiweng‘“, stellte der renommierte Übersetzer abschließend klar.

Text von: german.china.org.cn

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