Tianshui war einst ein wichtiger Warenumschlagplatz an der Seidenstraße. Heute ist die Stadt im Süden der Provinz Gansu außer eingefleischten Bierkennern und Früchteliebhabern jedoch nur noch den wenigsten ein Begriff. Ihr Gerstensaft der Marke „Gelber Fluss" schmeckt in der Tat genauso vorzüglich wie ihre überdurchschnittlich großen Pfirsiche. Vermutlich liegt das am besonderen Wasser der Stadt. Tianshui bedeutet schließlich nicht umsonst „Wasser des Himmels".
Der 400.000-Einwohnerort bietet aber weit mehr als nur Bier und Pfirsiche. Und das nicht erst seit gestern. Eigentlich müsste Tianshui schon längstens in einem Atemzug mit Jerusalem, Rom, Mekka und anderen religiösen Zentren der Welt genannt werden. Denn hier auf halbem Weg zwischen Lanzhou und Xi'an soll der Mann geboren worden sein, dem die Menschheit ihre Existenz verdankt. Sein Name: Fu Xi.
Der Legende nach überlebten Fu Xi und seine Schwester Nüwa einst als einzige eine Flut von epischem Ausmass. Um das Menschengeschlecht vor dem Aussterben zu retten, begannen sich die Geschwister mit Gottes Segen fortzupflanzen. Zur Beschleunigung ihrer „Gesellschaftsbildung" formten Fu Xi und Nüwa zusätzlich Menschen aus Ton, denen sie mit ihren übernatürlichen Kräften Leben einhauchten.
Vater der chinesischen Kultur
Seinen Söhnen und Töchtern soll Fu Xi anschließend das Fischen und Jagen sowie die Aufzucht und Nutzung von Haustieren beigebracht haben. Zu den weiteren Erfindungen, die ihm gutgeschrieben werden, gehören etwa die acht Grundzeichen des Orakelbuchs „I Ging", die Schrift, der Kalender oder auch das Musikinstrument Guqin.
In Anbetracht dieser gewaltigen Leistungen fällt der Tempel, den die Tianshuier ihrem berühmtesten Sohn im 15. Jahrhundert errichtet haben, geradezu bescheiden aus. Einzig die prächtigen Phönix- und Drachenreliefs aus Holz an seiner Fassade weisen darauf hin, dass es sich hier um keinen gewöhnlichen buddhistischen Tempel handelt.
Noch merkwürdiger als die Schlichtheit des Sakralbaus sind die westlichen Gesichtszüge der Fu Xi-Statue. Dass der Urvater der Chinesen kurzes schwarzes Haar hat, leuchtet ein. Aber große runde Augen, ein breiter Schnauz und ein langer Bart? Ganz offensichtlich hat sich der Bildhauer bei der Anfertigung dieser Statue genauso nach dem westlichen Schönheitsideal orientiert wie das die chinesische Modewerbung auch heute noch gerne tut.