In Cangzhou wird allerdings nicht nur eifrig der Koran studiert. Eng mit der Kultur der Hui-Minorität verbunden ist die traditionelle Kampfkunst Wushu. Zusammen mit Dengfeng in Henan und Putian in Fujian gehört die Löwenstadt zu Chinas drei Kampfsport-Hochburgen. Das Cangzhouer Wushu kennt eine Vielzahl von verschiedenen Stilrichtungen. Einer, der mehrere dieser Stile beherrschte, war Wang Ziping (1881-1973, Bild Zweiter von links). Der gläubige Muslim und spätere Vizevorsitzende des Chinesischen Wushu-Verbands gehörte in jungen Jahren der Boxer-Bewegung an, deren Ziel die Vertreibung der ausländischen Unterdrücker aus China war.
Obwohl in Tianjin geboren wird auch Huo Yuanjia (1869-1910, Bild ganz rechts) der Cangzhouer-Schule zugeordnet. Der Gründer der Jin Wu Sports Federation gilt in China auch heute noch als Held, weil er in Zeiten der nationalen Demütigung mehrere ausländische Kämpfer besiegt haben soll. Sein legendenumwobenes Leben wurde verfilmt und kam 2006 im Westen unter dem Titel „Fearless" mit der Kungfu-Legende Jet Li in der Hauptrolle in die Kinos.
Nicht weniger mysteriös als das Leben von Huo Yuanjia ist der Ursprung der großen Hui-Gemeinde von Cangzhou. Zumindest für die einheimischen Hui ist der Fall klar: Sie würden von „Baba" – dem „Vater" – abstammen, sagt die Soziologin Bai Li wie aus der Pistole geschossen. Wie der liebevoll als „Baba" bezeichnete mystische Ur- oder Gründervater der Hui von Cangzhou mit richtigem Namen hieß, geschweige denn wann er gelebt hat, weiß die gläubige Muslimin jedoch nicht.
Nicht einmal das Grab von „Baba" auf dem Areal einer Firma, umgeben von Lagerhäusern und Wohnblocks, gibt dieses Geheimnis preis. Laut Inschrift auf dem Torbogen hat ihn Allah höchstpersönlich nach Cangzhou geschickt, um hier seine Worte zu predigen.
Diese Theorie ist wissenschaftlich jedoch genauso haltlos wie der Verdacht, der bronzene Bodhisattwa vom Rücken der Löwen-Statue sei von den Muslimen gestohlen und im Grab ihres „Baba" versteckt worden. Viel wahrscheinlicher ist die These, dass die muslimische Gemeinde von Cangzhou auf arabischstämmige Händler zurückgeht, die sich hier wie an anderen Orten entlang des Großen Kanals von Hangzhou nach Beijing im Laufe der Zeit niedergelassen haben.
Der Einzige, der sowohl das Geheimnis der Bodhisattwa-Statue als auch den Ursprung der Cangzhouer Hui-Gemeinde kennen sollte, ist der Löwe. Doch der schweigt seit über eintausend Jahren eisern.
Reisetipps:
Cangzhou (沧州) ist von Beijing aus bequem mit dem „Dong Che" in etwas über anderthalb Stunden erreichbar. Die Fahrt mit dem Bus vom neuen Bahnhof ins Stadtzentrum dauert etwa 25 Minuten.
Da viele Hotels keine Ausländer bei sich aufnehmen, ist eine Vorreservation auf dem Internet ratsam.
Sowohl der Weg zur Löwen-Statue (铁狮子) als auch zum Grab des „Baba" (先贤墓) sind kaum oder überhaupt nicht beschildert. Zur Besichtigung dieser beiden Sehenswürdigkeiten wird wärmstens ein Taxi empfohlen.
Auch die Nandasi (南大寺) ist nur schwer zu finden. Als Ausgangspunkt für eine Besichtigung der Moscheen von Cangzhou bietet sich die Beida (北大寺) an der Jiefang Zhong Lu an. Ihr gegenüber liegt eine kleine Moschee, die für Frauen reserviert ist.
Noch älter und größer als die Beida ist die Botou-Moschee (泊头清真寺) 45 Autominuten entfernt.
Sprachunkundige werden sich in Cangzhou trotz seiner hilfsbereiten Bewohner nur schwer zurecht finden.
Viel Spaß in Cangzhou!
Text und Fotos: Simon Gisler