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Wir wollen jetzt einmal die Charakteristika der Grasschrift analysieren. In der Grasschrift sind im Gegensatz zu den anderen Schrifftypen die Striche durchgehend verbunden, auch wenn sie manchmal abgesetzt erscheinen. Sie sind uneinheitlich, verstreut und verschlungen, es ist eine wilde Mischung feuchter und trockener Linien. Je nach Stimmung ist ein Zeichen gerade oder schief, zwischen den Zeichen sieht man hier eine Verbindung, dort ein Schwanken oder eine Überschneidung. Die Zeilen sind mal eng, mal breit im Abstand; mal gewunden, dann wieder gerade, parallel oder nicht; nichts ist statisch oder fest. All dies reflektiert meistens einen rastlosen, manischen inneren Rhythmus, den die Leidenschaft oder die Eingebung vorantreibt.
Die Grasschrift, und besonders die sogenannte Wilde Grasschrift, ist der freieste Schrifttyp. Alle Gesetze und Regeln der übrigen Stile schränken die Grasschrift nicht ein. Man kann diese Situation anhand der Malerei erläutern: Am wenigsten frei ist die Darstellung des Menschen, weil da am meisten die äußere Ähnlichkeit gefragt ist. Bei der Landschaft sind die Anforderungen an die äußere Ähnlichkeit schon nicht mehr so streng, der Maler kann mehr seinem Willen folgen. Die Porträtmalerei ist wie die übrigen Stile, und die Landschaftsmalerei ist wie die Grasschrift. Man will auch hier etwas erkennen, aber dennoch kann man die Norm der Zeichen außer Acht lassen und Organisation der Striche ändern, wie es die Eingebung, die Eleganz und die Freiheit erfordern. Durch diese Befreiung der Grasschrift sucht man mit ganzer Kraft nach Eigenart und Schönheit, Die Kühnheit und Leidenschaft des Kalligraphen kommen direkt zum Ausdruck.
Die Grasschrift ist auch jener Schrifttyp, welcher der räumlichen Kunst der Kalligraphie die Eigenart einer Kunst in der Zeit hinzufügt. In den anderen Stilen wird die Ausführung von der Strichfolge des einzelnen Zeichens bestimmt, d.h. jeder Strich geht beim Schreiben in eine bestimmte Richtung, und die Reihenfolge der Striche ist ebenfalls festgelegt. Der Betrachter kann das keineswegs sofort mit einem Blick erfassen, man kann sogar sagen, dass es den Betrachter nicht interessiert, welcher Strich früher oder später gesetzt wird. In der Grasschrift wird der zeitliche Faktor durch die Verbindung der Striche sowohl innerhalb eines Zeichens, als auch zwischen den Zeichen bestimmt, Diese Eigenart kann der Betrachter sofort mit einem Blick erfassen, und sie wird ihn auch am meisten interessieren. Diese deutliche Eigenart ist den von Leidenschaft und Eingebung angetriebenen Kalligraphen natürlich sehr willkommen, weil sie mit der raschen Bewegung des Pinsels die hohe Frequenz ihrer Herzensregungen ausdrücken können.
Hier muss man sagen, dass die Kalligraphie zwar die Empfindungen des Schreibenden herausbringen kann, sie kann jedoch nicht mit bestimmten Punkten oder Strichen, mit einer Zeichenform oder mit der Reihung der Zeichen in einer Zeile direkt diese Empfindungen sagen- sie ist kein "Lied der Seele". Der Grund dafür ist einfach: Ein Strich, ein Zeichen oder eine Zeile ist keineswegs die Verkörperung einer bestimmten Empfindung. Man kann nicht mit einem bestimmten Strich, mit der Form eines Zeichens oder einer Zeile etwa Freude ausdrücken, oder einen bestimmten Grad an Freude, und mit anderen Strichen, Zeichen oder Zeilen dann einen Grad an Trauer. Wenn jemand sagt, dass eine Kalligraphie strahlt, weil der Schreiber gerade sehr zufrieden war, oder dass ein Werk praktisch die Stirne runzelt, weil der Kalligraph gerade bedrückt war, dann ist das natürlich Unsinn. Eine Kalligraphie ist etwas Anderes als der Text eines Gedichtes. Der Kalligraph drückt etwas aus, aber nicht irgendwelche bestimmte Gedanken oder Gefühle zu einem bestimmten Thema. Das kann man in einem Gedicht machen, aber nicht mit einer bestimmten Schreibweise der Zeichen.
Für den Kalligraphen ist die Empfindung nur eine zusätzliche Hilfe im Schaffensprozess, die ihm noch mehr Begeisterung und Schwung verleiht. Was er aufs Papier bringen will, ist aber keineswegs diese Empfindung, das ist auch einfach nicht möglich. Was im Werk aufscheint, ist höchstens ein schnellerer Rhythmus, ein deutliches Auf und Ab, oder eine kuriosere Formensprache, das kann man aber nicht genau angeben. Für den Kalligraphen ist es genug, er weiß recht gut, dass seine Kunst zwar nicht stumm ist, aber auch nicht gerade schlagfertig, eher von "nobler Zurückhaltung". Umso besser ist sie dafür geeignet, die Eingebung eines Menschen mit ihrer Formensprache zu brechen. Eine solche Refraktion ist manchmal bewegender, als wenn man etwas direkt ausspricht.
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