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Wolfgang Kubins Neuauflage, ein altes Buch in neuem Umschlag
  2015-12-17 15:23:10  cri

Nachrichten von der Hauptstadt der Sonne – moderne chinesische Lyrik, 1919 – 1984

 

Das von dem deutschen Sinologen Wolfgang Kubin herausgegebene und aus dem Chinesischen übersetzte Buch Nachrichten von der Hauptstadt der Sonne – moderne chinesische Lyrik, 1919 – 1984, das der Verlag Suhrkamp zum ersten Mal 1985 herausbrachte, ist in diesem Jahr erneut erschienen, diesmal beim Bacopa Verlag. Während die alte Suhrkamp-Version einsprachig, deutsch war, ist die neue Bacopa-Version zweisprachig, deutsch-chinesisch: diese Erneuerung nennt Professor Kubin im Vorwort zur Neuauflage „einen offensichtlichen Unterschied" – „Die chinesischen Originale sind den deutschen Übertragungen nun zur Seite gestellt."[1] Es stellt sich die Frage: Was kann das Motiv für Bacopa sein, eine Neuauflage zu drucken? Vielleicht gilt es den deutschsprachigen Sinologen, oder auch den chinesischen Germanisten? Natürlich hat sich auch der Auftritt erneuert: Aus dem typisch suhrkampisch (r)einfarbigen, hellblauen Umschlag wird einer des Bacopa, worauf das Gelb des Sonnenlichtes von oben her allmählich auf dem Grün in Form eines Daches weich landet. Als Chinese assoziiere ich damit das Tian'an Men (das Tor des Himmlischen Friedens), das die Stadt Beijing symbolisiert. Wenn schon Kubin in dem 1984 verfassten Vorwort schrieb, dass der Buchtitel auf Bei Daos Gedichtszyklus Nachrichten von der Hauptstadt der Sonne zurückgehe, und obwohl er zu Recht meinte, dass Bei Dao damit auf Campanellas Sonnenstaat anspiele, entspricht das Design des Bacopa-Verlags wohl eher, was Bei Dao vor allem meinte: die Hauptstadt Chinas, Wohnsitz des Vorsitzenden Mao, der von den Chinesen mit der Sonne verglichen wurde, als der Gedichtszyklus entstand.[2]

 

Zwischen den zwei Erscheinungsorten Suhrkamp und Bacopa spannt sich ein 30 Jahre langer Abschnitt des Lebens- bzw. Entwicklungsweges von Wolfgang Kubin und seinem besprochenen Buch. Es ginge wohl nicht fehl, zu sagen, dass Kubins Karriere inzwischen gut aufgestiegen ist. Das lässt sich u. a. durch sein Image in der Presse widerspiegeln. Wie er sich im Vorwort zur Neuauflage in Erinnerung ruft, wurde die Erstauflage zwar „nur ein einziges Mal besprochen und dabei von einem ehemaligen Schüler in Die Zeit (27/1985) vernichtend kritisiert", aber es hat sich durchgesetzt als „Lieblingskind".[3] Während er inzwischen (besonders, nachdem ihn seine sensationelle These – Chinas Gegenwartsliteratur sei Müll – sozusagen über Nacht in China berüchtigt-berühmt gemacht hat) in China „ein Star"[4] geworden ist, „hat man [von besagtem Schüler an der FU Berlin] später leider nichts mehr gehört"[5], wie der heutige Professor Kubin seinen damaligen Schüler-Kritiker satirisiert, der aus heutiger Sicht nicht weniger kubinisch tut mit dem Titel seiner damaligen Kritik: „Doppelmord [an der deutschen Sprache und an der chinesischen Literatur]. Ein Sammelband moderner chinesischer Lyrik der Jahre von 1919 bis 1984"[6]. Beide Thesen klingen schlagzeilenartig und entsprechen nicht der chinesischen Weisheit der goldenen Mitte.

 

„Nach dreißig Jahren ist natürlich vieles anders geworden, so daß sich die Frage stellt, ob ein Nachdruck rein historisch zu erfolgen habe oder nicht eher zu aktualisieren sei", so denkt Kubin eigentlich ganz zeitbewusst. Aber aus Furcht, dass die Anthologie damit eine gänzlich andere würde, will er sich dann mit der „Korrektur der offensichtlichen Fehler" begnügen.[7] Das heißt, außer seiner Zweisprachigkeit gibt es keinen wesentlichen Unterschied zwischen dieser Bacopa-Version 2015 und der Suhrkamp-Version 1985. Es ist also schlicht ein altes Buch in neuem Umschlag.

 

Das Buch trägt immer noch den Titel „Nachrichten von der Hauptstadt der Sonne", der heute leider nicht mehr passt. Als Kubin die Gedichte zusammenstellte, in den 1980er Jahren, galt die Wortwahl „Nachrichten" als Übersetzung von Bei Daos „Zha Ji" (札记), einem altchinesischen Text-Begriff, der sich eigentlich lediglich auf des Dichters Lebenseindrücke in den 70ern und 80ern Jahren bezieht, noch insofern, als die Gedichtsammlung, inklusive Gedichten der damaligen Gegenwart angesichts der erst neulich praktizierten Öffnung etwas Neues von dem sozialistischen Staat China zu vermitteln vermochte. Ohne aber die gesammelten Gedichte zu aktualisieren, scheint Kubins altes Buch jetzt, im Jahr 2015, nicht mehr in der Lage zu sein, „Nachrichten" bzw. News von der Hauptstadt seinem Leser zu übermitteln. Auch von der „Sonne der Mao-Zeit" bleibt jetzt kaum noch ein Spur übrig.

 

Mit Gu Chengs berühmtem Zweizeiler „Eine Generation" gesagt, der auch in Kubins Buch gesammelt wurde: „Die schwarze Nacht hat mir schwarze Augen gegeben / Ich gehe mit ihnen das Licht suchen"[8]. Aber schwarzsehend verhält man sich gegenüber Kubins Buch doch ungerecht, man soll es mehr von seiner Lichtseite betrachten.

 

Sinologe Kubin als Editor bzw. sein Übersichts- und Einsichtsvermögen

 

Ohne Zweifel zählt Kubin zu den besten Sinologen weltweit: der Herausgeber und einer der Hauptautoren der neunbändigen Geschichte der chinesischen Literatur hat seinen Ruhm und unseren Respekt verdient.

 

Auch wenn wir uns hier auf das Vorwort des besprochenen Gedichtbandes beschränken, das Kubin auf November 1984 datierte, ist darin einerseits sein Übersichtsvermögen zum Umreißen der Entwicklung der modernen chinesischen Lyrik bewundernswürdig, andererseits seine Perspektive darauf, wie schon der Titel dieses Vorwortes bedeutet: „Das geliehene Ich" – einsichtig. Moderne Lyrik hieß einmal auf Chinesisch Xinshi (neue Lyrik), Kubin schrieb bewusst:

 

Die neue Lyrik (xinshi), die sich mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert unter dem Einfluß des Westens und durch eine Neubewertung der klassischen Tradition und umgangssprachlichen Literatur zu entwickeln begann, hatte sich also gegen mehr als zweieinhalb Jahrtausende national und international anerkannter Poesie durchzusetzen. Dieser Prozeß kann heute, nach bald einem Jahrhundert, noch nicht als abgeschlossen gelten. [...] ist das neue Gedicht allgemein gesehen immer noch das áámißratene Kindññ, von dem David Y. Chen spricht.[9]

 

Das Missratene, das eben durch seine ununterwürfige Wildheit doch kreativ bleibt und daher zum Neuen der neuen Lyrik gehört, geht auf die Entdeckung des modernen Ich zurück: „Mit dem Zerbrechen der traditionellen Bande von Familie und Gesellschaft erfuhr sich der Mensch in dieser Zeit zum ersten Mal als Person im modernen Sinne, d. h. als ein autonomes Ich."[10] Ganz einsichtig stellt Kubin es der traditionellen Auffassung des Ich gegenüber und arbeitet damit den wesentlichen Unterschied zwischen der chinesischen Moderne und Tradition heraus.

 

Die traditionelle chinesische Lyrik kennzeichnet ja gerade aufgrund des konfuzianischen, daoistischen und buddhistischen Einflusses (alle drei Lehren legten dem Menschen nahe, sein Selbst in Familie/Staat, Kosmos oder Buddha aufzuheben) das Verschwinden des Ich hinter oder in den Dingen.[11]

 

Gerade von diesem point of view heraus gelangt Kubin bei der Darstellung der Geschichte moderner chinesischer Lyrik bis Mitte der 1980er Jahre zu etlichen erhellenden Ansichten. Was er beispielsweise zu Menglongshipai (Hermetische Lyrik) gesagt hat, hat die damalige Mainstream-Meinung der chinesischen Literaturwissenschaft korrigiert.[12]

 

Dichter Kubin als Übersetzer oder der Zuwachs an Sprachkunst durch Übersetzung

 

Seiner Vorrede geht in dem auch heuer von Bacopa publizierten Gedichtband Kubins eine Kurzvorstellung des Autors voraus, in der zu lesen ist: „Wolfgang Kubin, chinesisch Gu Bin 顾彬, geb. 1945 in Celle, Sinologe, Übersetzer, Schriftsteller"[13]. Eine gewisse Dreifaltigkeit in Ordnung. Denn Schriftsteller Kubin steht gerechterweise hinter Sinologen und Übersetzer Kubin. Trotzdem verdankt Gedichtübersetzer Kubin wohl viel seinem Dichten. Erst aus Liebe zum Gedicht kann man beim Übersetzen lauschen, wo des Gedichtes Herz schlägt, wie es atmet. Sobald das zu übersetzende Gedicht dem dichtenden Übersetzer begegnet, ergibt sich eine gute Übersetzung, an der der Zuwachs an Sprachkunst durch Übersetzung leicht erkennbar wird.

 

                     远和近                                      Fern und Nah

                    

                     你,                                          Du

                     一会看我,                                Schaust bald mich

                     一会看云。                                Bald die Wolken.

                    

                     我觉得,                                   Als

                     你看我时很远,                         Sei ich fern,

                     你看云时很近。                         Die Wolken nah.[14]

 

Wenn man als zweisprachiger (im Fall eines chinesischen Germanisten) Liebhaber moderner chinesischer Lyrik Kubins Übersetzung – beispielsweise eines beliebten Gedichtes von Bei Dao – liest, ist die Freude doppelt so groß, als ob man sich selbst nicht un-narzisstisch im Spiegel betrachtet.

 

       回答                                   Die Antwort

      

       卑鄙是卑鄙者的通行证,    Infam lautet das Paßwort der Infamen,

       高尚是高尚者的墓志铭。    Würde ist das Epitaph der Ehrwürdigen.

       看吧,在那镀金的天空中,Schau, am vergoldeten Himmel

       飘满了死者弯曲的倒影。    Treiben überall die gebogenen Schatten der Toten.

      

       冰川纪过去了,                  Die Eiszeit längst vorbei,

       为什么到处都是冰凌?       Warum herrscht überall noch das Eis?

       好望角发现了,                  Das Kap der guten Hoffnung ist entdeckt,

       为什么死海里千帆相竞?    Warum messen sich im Toten Meer tausend Segel?

      

       我来到这个世界上,           In diese Welt

只带着纸、绳索和身影,    habe ich nur Papier, einen Strick und meinen Schatten mitgebracht,

       为了在审判之前,              Um vor den Richtern

       宣读那被判决了的声音:    Die Stimmen der Verurteilten zu verkünden:

      

       告诉你吧,世界,              Ich sage dir, Welt,

       我——不——相——信!    Ich – glaube – nicht!

       纵使你脚下有一千名挑战者,Selbst wenn zu deinen Füßen tausend Herausforderer liegen,

       那就把我算做第一千零一名。Zähle mich als tausendundeins.

      

       我不相信天是蓝的,           Ich glaube nicht an die Bläue des Himmels;

       我不相信雷的回声;           Ich glaube nicht an die Stimme des Donners;

       我不相信梦是假的;           Ich glaube nicht an die Falschheit von Träumen;

       我不相信死无报应。           Ich glaube nicht an die Sühnelosigkeit des Todes.

      

       如果海洋注定要决堤,Wenn es bestimmt ist, daß Meere die Dämme durchbrechen,

       就让所有的苦水都注入我心中;So laß alle Wasser der Bitternis in mein Herz hinein;

       如果陆地注定要上升,Wenn es bestimmt ist, daß Ufer sich erheben,

       就让人类重新选择生存的峰顶。So laß die Menschheit ihrer Existenz neu einen Gipfel wählen.

      

       新的转机和闪闪的星斗,Es ist der Schnittpunkt der Zeit und blitzende Sterne

       正在缀满没有遮拦的天空,Verschönen gerade den unblockierten Himmel,

       那是五千年的象形文字,    Es sind fünftansend Jahre alte Piktogramme,

       那是未来人们凝视的眼睛。Es sind die Gestalt gewordenen Blicke künftiger Generationen.[15]

 

Kurz gesagt, es ist trotz der unangenehmen chinesischen Übersetzung seines Vorwortes zur Neuauflage und einiger Druckfehler doch ein empfehlenswertes Buch von Wolfgang Kubin.

 



[1] Wolfgang Kubin (Hg.): Nachrichten von der Hauptstadt der Sonne – moderne chinesische Lyrik, 1919 – 1984. Schiedlberg 2015a, S. 11.

[2] Vgl. ebenda, S. 37; 夏元明《北岛组诗<太阳城札记>解读》,载《名作欣赏》2005年第17.

[3] Kubin 2015a, S. 9.

[5] Kubin 2015, S. 9.

[6] Die Zeit, 27/1985, http://www.zeit.de/1985/27/doppelmord vom 10.12.2015.

[7] Kubin 2015a, S. 11.

[8] Ebenda, S. 447. Im vorliegenden Zitat ist Kubins Übersetzung an zwei Stellen vom Verfasser abgeändert worden.

[9] Ebenda, S. 15.

[10] Ebenda, S. 19.

[11] Ebenda, S. 19.

[12] Vgl. Ebenda, S. 29-35.

[13] Wolfgang Kubin: Das Gleichgewicht der Unruhe. Das frühe Werk 1976-1985. Band 3. Schiedlberg 2015b, S. 5.

[14] Kubin 2015a, S. 452f.

[15] Ebenda, S. 356-359.

 

 

Dr. WANG Yanhui, geb. 1981 in Dangshan, Germanist, Übersetzer, arbeitet als Dozent für Neuere Deutsche Literatur an der Beijing Foreign Studies University. Forschungsschwerpunkte: Hermann Broch, Volker Braun, Klassische Moderne. Neuste Publikationen: „Jenseits der Sprache. Das ‚Wort' in Brochs Tod des Vergil und das ‚Tao' in Laotses Tao Te King", in: Jahrbuch für Internationale Germanistik, Jahrgang XLVII – Heft 1 (2015), Verlag Peter Lang; Übersetzung aus dem Deutschen ins Chinesische von Volker Brauns Gedichten in:《未终结的故事——福尔克·布劳恩作品集》[Unvollendete Geschichte],人民文学出版社[People's Literature Publishing House]2015.

 

 

 

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