Der Sieg der chinesischen Langstrecklerin Xing Huina über 10.000m kam für die Fachwelt doch sehr überraschend. Die 20jährige Chinesin hatte bisher keinen allzu großen Namen in der Leichtathletik und nahm zum ersten Mal an Olympischen Sommerspielen teil.
An der Startlinie des Endlaufs über 10 000m bei den Olympischen Sommerspielen in Athen standen unter anderrem die Erzrivalen aus Äthiopien: Die Olympiasiegerin von Sydney Derartu Tulu und die Weltmeisterin Werknesh Kidane. Im Vergleich zu den beiden war die 20jährige Chinesin Xing Huina ein regelrechtes Mauerblümchen.
Doch für die wenig erfahrene Xing Huina lief das Rennen von Anfang an eigentlich ideal. In den ersten 20 Runden machte sie sich, ohne dass sie sich voll ausgab, im "Äthiopien-Block" breit. In den letzten beiden Runden ging sie das höhere Tempo der Äthiopierinnen mit, um schließlich zu einem famosen Endspurt anzusetzen. Die beiden Favoriten aus Afrika waren geschlagen, Xings Siegerzeit betrug 30 : 24,36 min. Mit dieser persönlichen Bestleistung gewann sie die Goldmedaille.
Ihr Abschneiden im 5000m-Finale von Athen war für sie eine Enttäuschung, räumte Xing Huina selbstkritisch ein. Deshalb wollte sie sich im 10.000m-Lauf nicht blamieren und durch eine sehr gute Leistung positiv auffallen. Xing Huina nach dem Lauf:
"Nach dem 5000m-Lauf-Finale dachte ich nur daran, gute Leistungen im 10.000m-Endlauf zu zeigen und einen Platz unter den ersten acht zu belegen. Als heute die letzten fünf Runden anbrachen, fühlte ich mich noch sehr gut und da war ich sicher, dass ich ohne Probleme unter die ersten drei komme. Als ich in der letzten Runde merkte, dass die Äthiopierinnen nicht mehr viel zuzusetzten hatten, war ich sehr zuversichtlich, Gold zu erlaufen."
Die 1,68 m große Langstrecklerin aus der ostchinesischen Küstenprovinz Shangdong hält den Weltrekord der Junioren über 10 000 m. Als nur Siebtplatzierte bei der Leichtathletik-WM im vergangenen Jahr stand sie vor dem Endlauf in Athen nicht auf der Rechnung ihrer Gegnerinnen, zumal sie beim 5000m-Lauf einige Tage vorher lediglich den neunten Platz belegte. Selbst Xing Huina war vor den 10.000 Metern wenig zuversichtlich. Aber sie war sehr locker, und die Ignorierung durch die Gegnerinnen half Xin Huina, sich Stück für Stück nach vorn zu arbeiten. Den Sieg verdankt Xing Huina auch ein Stück ihrer Teamkollegin Sun Yingjie. Sie galt eigentlich als Top-Favoritin und leistete anfangs enorme taktische Führungsarbeit, womit sie das gesamte Teilnehmerfeld einigermaßen in Verlegenheit brachte. Die äthiopischen Spitzenläuferinnen mussten kontern, wodurch sie sich gegenseitig zermürbten. Xing Huinas Endspurt war dann schließlich niemand mehr gewachsen.
Bei den Sommerspielen 1996 in Atlanta gewann die chinesische Langstreckenläuferin Wang Junxia die Goldmedaille über 5000 m. Nach kurzer Zeit der Euphorie versank danach jedoch die chinesische Leichtathletik in einem tiefen Loch. Deshalb ist der Gewinn der olympischen Goldmedaille über 10000 m durch Xing Huina von besonderer Bedeutung. Die Durchbrüche der chinesischen Leichtathleten bei den Sommerspielen in Athen begründete Tian Shuyong, Cheftrainer der chinesischen Leichtathletikauswahl und Dozent des internationalen Leichtathletik-Verbands, mit hartem Training und psychischer Nachhilfe. Besonders habe man das Augenmerk auf technische Details gerichtet. Er informierte eigens auf Englisch die westlichen Journalisten über die chinesische Leichtathletik:
"Da die Athleten aus China und anderen asiatischen Ländern körperlich den Europäern, Amerikanern und Afrikanern unterlegen sind, ist es schwer, gute Leistungen in reinen Laufdisziplinen zu erringen. Das Schlüsselwort für unseren Sieg liegt darin, Disziplinen wie den 110m Hürdenlauf, die größere technische Anforderungen stellen, zu erforschen, spezielle Trainingspläne auszuklügeln und den Mangel der körperlicher Konstitution irgendwie vergessen zu machen."
Auch Lamine Diack, der Vorsitzende des internationalen Leichtathletik-Verbandes, der natürlich live im Stadion die beiden Goldmedaillen für China miterlebt hatte, würdigte die Leistung der beiden chinesischen Athleten in höchsten Tönen. Er sagte:
"Liu Xiang ist während der diesjährigen Saison sehr gut gelaufen. Das hat mich sehr beeindruckt. Liu hat eine große sportliche Zukunft vor sich. Ich rechne schon jetzt damit, dass er bei den Sommerspielen in vier Jahren sein Können noch eindrucksvoller präsentiert und noch einmal Olympiasieger wird. Für mich war das 10.000m-Finale der Frauen eine große Überraschung. Vor dem Endlauf fand ich die Gewinnaussichten der berühmten äthiopischen Läuferinnen und der chinesischen WM-Dritten Sun Yingjie ziemlich groß. Aber das Gold ging letztlich an Xing Huina, und dank ihr wurde der Endlauf doch sehr spannend und attraktiv. Ich gratuliere China, dass es solch gute Langläuferinnen beherbergt!"
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