Pingyao bietet einen Blick in eine längst vergangene Zeit, denn die kleine Handelsstadt sieht heute noch genau so aus, wie fast alle chinesischen Städte vor 300 Jahren. Hier scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Im Schatten einer hohen, mehr als sechs Kilometer langen Stadtmauer ducken sich ein- und zweistöckige schwarze Ziegelhäuser. Nur die buntglasierten Dächer der Tempel stechen hervor.
Pingyao verdankt seinen Aufstieg dem Reichtum der Kaufleute und dem Bankwesen. Hier wurde nämlich die erste Bank in China gegründet, hier gab es das erste Papiergeld und die ersten Schecks, mit denen dann im ganzen Land Handel betrieben wurde. Der Tempel des Mammongottes ist also nicht zufällig der prächtigste der Stadt.
Sein Weiterbestehen in den alten Mauern verdankt Pingyao der Armut: Als sich Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Industrialisierung die Handelswege änderten, verlor Pingyao an Bedeutung. Pingyao blieb erhalten, und man kann heute hier nachspüren, wie das alte China gelebt hat.
Die beiden großartigen buddhistischen Tempel außerhalb der Stadtmauern haben die Stürme der Zeit seit Jahrhunderten überstanden. In diesen Tempeln überdauerten seltene Fresken und außergewöhnliche Skulpturen die Zeiten.
Und auch akustisch können wir uns zurückversetzten lassen in jene Zeit, als sich das Städtchen in seiner Blütezeit befand:
Die Trommel kündet: Ein Bote des Kaisers naht. Er wird mit allen Ehren vom Mandarin selbst vor dem Tor empfangen. Schließlich soll der Bote bei der Heimkehr dem Herrscher auf dem Drachenthron nur Gutes über Pingyao berichten können. Wo so mächtige Mauern gebaut werden, wo beim Wachwechsel kein Trupp dem anderen ausweichen muss, wo Kanonenwagen auf der Mauerkrone fahren können, da muss die Umgebung gefährlich sein, da muss es Wertvolles zu beschützen geben.
Vor Jahrhunderten war Pingyao, am Rande des nordchinesischen Lössplateaus, nur eine unbedeutende ländliche Kreisstadt, Verwaltungsort für viele arme Dörfer in der Umgebung.
Doch Ende des 16. Jahrhunderts entdecken plötzlich zu Wohlstand gekommene Handwerker, Färber und vor allem Kaufleute aus der ganzen Provinz Pingyao als idealen Ort für ihre Geschäfte. Mitten durch die Stadt verlaufen zwei wichtige Handelsrouten. Jedes Haus beherbergt nun einen Laden, eine Wechselstube, eine kleine Manufaktur. Das Grau der Ziegel und Dächer täuscht Bescheidenheit vor, doch Durchblicke auf bunte Balkone lassen Wohlstand ahnen. Bunt glasierte Ziegel sind den Göttern vorbehalten. Im chinesischen Volksglauben, dieser Mischung aus Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus mit Geisterglauben und sehr diesseitigen Glücksvorstellungen, hat jede Stadt ihren eigenen Stadt-Gott. Dem Stadtgott von Pingyao ist der größte Tempel des Städtchens geweiht. Auch Götter müssen geschützt werden. Beschützende Dachtiere sollen die bösen Geister abhalten.
Eine zeitlang wurden die alten Tempel dann auch als Lagerhäuser missbraucht, doch nach Jahrzehnten der Vernachlässigung erstrahlt die Anlage heute wieder nach umfangreicher Restaurierung im Originalzustand. Hier leben nun wieder einige taoistische Mönche.
Tradition, manchmal auch Glaube, haben den Tempel wiederbelebt. Oft ist es auch nur die Vorstellung, dass es zumindest nicht schaden könne, ein paar Münzen oder Weihrauch zu opfern. Die Fresken im Tempel stammen noch aus dem 18. Jahrhundert und zeigen die Ankunft des Stadtgottes: Er zieht in einer Sänfte ein, wie ein Mandarin. Die Sünder werfen sich ihm zu Füßen. Die Honoratioren empfangen ihn devot. Glückbringende Fledermäuse werden von seinen Helfern über der Stadt freigelassen. Bei seiner Ankunft spielt sich im Theaterhof im Tempel vieles ab. Den Göttern zu Ehren wurde hier gespielt und gesungen. Unter den prunkvollen Dächern gehen Frömmigkeit und Lebensfreude einen engen Bund ein. Der Stadtgott, der Mammongott und der Küchengott werden in den drei miteinander verbundenen Tempeln verehrt. Glücklich sieht er nicht aus, der Mammongott, denn der Legende nach hat er kein Herz, und durch seine Hände laufen Geldschnüre. Goldbarren sind nicht nur sein Symbol, sondern auch das für Pingyao, das sich als Stadt der Banken einen Namen gemacht hat. Hier wird 1823 der erste Wechsel in China ausgestellt. Ein Händler ist es leid, dass seine Verkäufer immer wieder von Räuberbanden überfallen werden und ohne den Erlös ihrer Geschäfte heimkommen. Er erfindet den bargeldlosen Handel. Von da an werden mit Wechseln aus Pingyao bis in die entlegensten Ecken Chinas Geschäfte abgewickelt.
Eine alte Bank aus der damaligen Zeit ist heute ein Museum. Dort kann man auch noch alte Schecks, die mit Pinseln fein geschrieben und mit dem Abakus berechnet wurden, sehen. Erstaunlich, in welch vergleichsweise schlichten Räumen damals Millionen verwaltet wurden.
Die Mauer von 1370 war halb verfallen. Jetzt erst wird sie regelmäßig erneuert, von innen mit gestampftem Lehm, von außen mit gebrannten Ziegeln.
Kein Gebäude überragt die zehn Meter hohe, sechs Kilometer lange Mauer, alle ducken sich in ihren Schatten. Wie die Stadt in jeder Himmelsrichtung ein bewachtes Tor hat, so hat jeder Tempel vier Himmelswächter, die mit grimmem Blick und magischen Kräften die Glaubensfeinde abhalten sollen.
Diese Himmelswächter sind die ältesten Holzskulpturen in Pingyao.
Die Taoistischen, dem Leben zugewandten Tempel sind in der Stadt, die buddhistischen Klöster dagegen, wie der Shuanglin Tempel, liegen einsam außerhalb der Mauern. Im 6. Jahrhundert gegründet, ist Shuanglin eine wichtige Station auf dem großen Pilgerweg zwischen Nordchina und Indien. Nach 400 Jahren Blütezeit verfiel der Tempel und wurde erst mit dem Aufstieg Pingyaos zu einem Handelszentrum wieder belebt. Mit den Händlern kamen die Pilger. Nach erfolgreichen Geschäften, einer glücklichen Reise, kehren sie ein ins Kloster zu Dank und Opfer.
In vielen Einzelszenen wird die Geschichte des historischen Buddha, des Prinzen Siddharta, an den über und über mit Skulpturenbändern geschmückten Wänden erzählt. Zugleich geben die mehr als 2000 Holzfiguren einen Einblick in das chinesische Alltagsleben vor rund 500 Jahren. Die Halle des Sakyamuni, des verklärten Buddha der Zukunft, ist nur eine von zehn großen Gebetshallen im Shuanglin-Tempel. Am tiefsten verehrt wurde Guanyin, die Göttin der Barmherzigkeit und des Mitleids. Die Vielarmige vermag viel und vielen zu helfen. Sie wird immer tröstend und milde dargestellt. Umgeben ist sie von Hunderten von Boddhisatvas. Die Heiligen sind hier ungewöhnlich lebhaft dargestellt, als wollten sie trotz Wind und Wetter zur Hilfe eilen.
Doch kehren wir in die Mauern von Pingyao zurück. Nichts ist Zufall: 72 Ausguckstände erinnern an die 72 Weisen im Konfuzianismus, der traditionellen chinesischen Staatslehre.
Und dann ist da der Torturm des Yamen, der Kreisregierung. Die Architektur ähnelt der der Tempelanlagen: Auch hier liegen die wichtigsten Gebäude hintereinander auf einer Hauptachse. "Halle der Liebe zum Volk" - der Kriminalgerichtshof. Hier sprach der Mandarin Recht, die Folterinstrumente stets zur Hand. Sie sollen den Angeklagten geständig machen, und man zögerte auch nicht, sie anzuwenden. Hier im Yamen sieht man auch Edikte des Kaisers, in chineischen Schriftzeichen und mandschurischen Buchstaben. Der Mandarin hat die höchsten Beamtenprüfungen am Kaiserhof bestanden, ist nun der verlängerte Arm des Kaisers in der Provinz. Verwaltet, urteilt, setzt die Steuern fest und läßt sie eintreiben. Natürlich keinesfalls zu seinem Nachteil.
Der Hof für die Zivilgerichtsbarkeit, - und dahinter erstreckt sich noch ein Labyrinth von Höfen mit Privatgemächern, Tempeln für den Mandarin und mit einer kleinen privaten Opernbühne, mit Steuerbüros, Schatzkammer, Wachräumen und natürlich einem Kerker. Bei aller Pracht im Inneren, die Dächer des Yamen sind schwarz wie die der Bürgerhäuser.
Und dann ist da noch eine Besonderheit: Böse Geister können nämlich, so der alte Volksglaube, nur geradeaus gehen. Deshalb erschließen sich die großen Wohnhöfe immer erst hinter einem unscheinbaren verwinkelten Durchgang. Mehr als 400 solcher Hofhäuser sind erhalten.
Als Finanzzentrum verlor die Stadt Ende des 19. Jahrhunderts allmählich ihre Bedeutung, Pingyao wurde im Verlauf des letzten Jahrhunderts wieder zu einem bedeutungslosen Provinznest.
Doch Pingyao lebt. Der Sinn für die Schönheit des Alten lebt fort. Viele Höfe und Häuser wurden wieder reatauriert. Im Vergleich zu einigen anderen Städten in China, die ihre Mauern längst abgerissen haben, um dem modernen Verkehr Platz zu machen, steht die Stadtmauer von Pingyao heute unter vergleichsweise sicherem Schutz. Vielleicht hat sich hier deshalb auch der Sinn für die alten Kulturgüter geschärft.
Der Buddhistische Zhenguo-Tempel, vor 1100 Jahren erbaut, ist ein Beispiel für diese Haltung. Der Buddhismus hat schon seit Jahrhunderten keine große Bedeutung mehr in China. Doch als Zeugnis ihrer Kultur, ihrer großen Vergangenheit und der Kunstfertigkeit ihrer Ahnen, ist der Tempel den Menschen hier wichtig geblieben. Die Statuen und Fresken des Zhenguo-Tempels haben die Stürme und Ströme der Zeit überdauert und sind gut erhalten. Pingyaos Stadtmauer, einst erbaut, um den Reichtum zu schützen und die Armut fern zu halten, ist heute selbst der Reichtum der Stadt.
Pingyao bietet also einen Blick in eine andere Zeit, in eine typische chinesische Stadt vor mehr als 300 Jahren. Pingyaos besonderer Reiz ist, dass die Stadt lebt. Seit 1996 gehört Pingyao zum UNESCO-Weltkulturerbe.
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