Wiege der chinesischen Schrift
Der endgültige Nachweis für ihre Existenz erfolgte jedoch erst drei Jahrzehnte nach Wangs Tod mit der Entdeckung von „YH127". In der von Archäologen im Jahr 1936 ausgehobenen Grube im Nordwesten von Anyang, die heute das Herzstück des Yin-Ruinenmuseums bildet, wurden nicht weniger als 17.096 Orakelknochen gefunden. Bei den meisten dieser Knochenstücke handelt es sich um Teile von Schildkrötenpanzern, die von den Shang vor wichtigen Ereignissen mit Schriftzeichen versehen und danach im Feuer erhitzt wurden. Aus dem Verlauf der Risse, die sich durch die Hitze auf den beschriebenen Knochen bildeten, versuchten die Auguren anschließend, die Zukunft zu deuten.
Ein Unterfangen, das wohl mindestens so oft missraten sein muss wie das Entziffern der Schriftzeichen in den vergangenen 70 Jahren. Trotz intensivster Bemühungen konnten die Archäologen bisher erst einen Drittel der insgesamt knapp 5.000 identifizierten Zeichen einwandfrei entschlüsseln. Als allgemein anerkannt hingegen gilt, dass es sich bei den über dreitausend Jahre alten Schriftzeichen in Anyang um die ältesten je in China gefundenen schriftlichen Zeugnisse handelt. Diesem Umstand verdankt die Stadt denn auch ihre Bezeichnung als „Wiege der chinesischen Schrift". Wissenschaftler vermuten allerdings, dass die chinesische Schrift noch älter ist, da die in Anyang entdeckten Schriftzeichen bereits sehr ausgereift wirken.
Mehr als nur Knochen
In der ehemaligen Königstadt wurde aber bei weitem nicht nur eine riesige Menge an Orakelknochen ausgegraben. Auch Fundamente von Palästen und Tempeln, Gräber inklusive Beigaben, Pferdewagen sowie eine Vielzahl von Werkzeugen und sonstigen Alltagsgegenständen, die von der frühen Hochkultur der Shang zeugen, wurden nach und nach freigelegt. Einer der bisher spektakulärsten Funde in Anyang ist der fast eine Tonne schwere „Simuwuding", das bisher größte in China entdeckte Bronzegefäß aus der Antike.
Mit Ausnahme dieses Mega-Kessels bringen die Fundgegenstände im Yin-Ruinenmuseum, das seit 2006 zum Weltkulturerbe der UNESCO gehört, den Besucher nicht durch ihre Größe zum Staunen, sondern vielmehr durch ihr ungewöhnlich hohes Alter. Zum Vergleich: Chinas wohl bekannteste Ausgrabungsstätte, die Terrakotta-Armee in Xi'an, entstand erst 800 Jahre nach dem Ende der Shang-Dynastie.
Noch ein ganzes Stück älter sind die Pyramiden von Gizeh (ca. 2.500 vor Christus), mit denen die Ruinen von Anyang ganz am Anfang der Ausstellung verglichen werden. Die Gleichstellung mit Ägyptens Weltwunder, die auf einer Art Ehrentafel gemacht wird, hinkt aber nicht nur altersmäßig. Auch optisch sind die nur noch teilweise im Ansatz sichtbaren Gebäudefundamente der ehemaligen Königstadt nicht annähernd so imposant wie die hervorragend erhaltenen Pyramiden am Nil. An diesem ungleichen Vergleich ändert auch die Tatsache nichts, dass einige der Orakelinschriften in Anyang auf den ausländischen Besucher wirken wie ägyptische Hieroglyphen.
Reisetipps:
Mit dem „Dong Che" dauert die Fahrt von Beijing nach Anyang (安阳) vier Stunden. Vom Beijinger Westbahnhof gibt es mehrere Verbindungen pro Tag.
Das Museum der Yin-Ruinen (殷墟博物馆) liegt einige Kilometer außerhalb des Stadtzentrums. Am besten erreichen Sie es vom Bahnhof mit dem Taxi. Die Fahrtdauer beträgt etwa 15 Minuten. Im Museum gibt es Infotafeln auf Englisch.
In Anyang kommen nicht nur Archäologie-Freaks auf ihre Rechnung, sondern auch Leute, die sich für das Leben in einer chinesischen Provinzstadt interessieren. Die Straßenzüge unmittelbar gegenüber der Wenfeng-Pagode (文峰塔) geben einen besonders tiefen Einblick ins alte Anyang – vor allem am frühen Abend, wenn es in den Gassen nur so von Imbissständen wimmelt.
Ein absolutes Muss für jeden ausländischen Besucher ist die Hulatang (胡辣汤) zum Frühstück. Gegen diese rassige Suppenspezialität aus der Provinz Henan kommt nicht einmal der Spinat von Popeye an.
Ausländer sind in der ehemaligen Hauptstadt noch immer eine Seltenheit. Nehmen Sie es dem Personal im Restaurant also nicht übel, wenn es bei Ihrem Anblick in offenes Gelächter ausbrechen sollte.
Viel Spaß in Anyang!
Text und Fotos: Simon Gisler