Im Zentrum von Anyang erinnert heute so gut wie nichts mehr an die ruhmvolle Vergangenheit der Stadt. Einzig die 39 Meter hohe Wenfeng Ta aus dem Jahr 925, die für eine Pagode gegen oben hin untypischerweise breiter wird und damit von weitem ein wenig aussieht wie ein überdimensionaler Pilz, versprüht noch einen Hauch vom Glanz längst vergangener Tage.
Dabei war der 800.000-Einwohnerort in der Provinz Henan wie die heutigen Metropolen Beijing, Xi'an und Nanjing einst Chinas Hauptstadt. Vom 14. bis 11. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung regierten hier die Könige der Shang, einem Herrscherhaus, dessen Existenz mangels archäologischer Belege bis Ende des 19. Jahrhunderts von vielen Historikern stark bezweifelt wurde. Ohne die zufällige Entdeckung, die ein Gelehrter im 500 Kilometer entfernten Beijing kurz vor seinem Tod machte, wäre Anyang – oder Yin wie die letzte Hauptstadt der Shang-Dynastie damals hieß – wohl auch heute noch lediglich eine der vielen namenlosen Kleinstädte irgendwo in der chinesischen Provinz.
Seltsamer "Drachenknochen"
Seinen heutigen Status als eine der sieben alten Hauptstädte verdankt Anyang der Legende nach indirekt der Malaria. Als der Beijinger Wang Yirong, ein Experte für Bronze- und Steininschriften, im Jahr 1899 an der heimtückischen Tropenkrankheit erkrankte, soll ihm sein Arzt die Einnahme eines zerriebenen „Drachenknochens" verschrieben haben, eine traditionelle chinesische Medizin, die nachweislich bereits im zweiten Jahrhundert vor Christus zur Behandlung von Krankheiten wie Dysenterie, Gallensteinen oder Geschwülsten eingesetzt wurde. Bei den im Chinesischen als „Lóng Gǔ" bezeichneten Knochen, die Wang und andere Patienten jener Zeit erhielten, handelte es sich natürlich nicht um „Drachenknochen" im wörtlichen Sinn, sondern um alte Schildkrötenpanzer oder andere Tierknochen, die von Bauern gelegentlich bei der Feldarbeit gefunden und an Heilpraktiker verkauft wurden.
Jahrhundertfund
Bevor sein „Drachenknochen" zu einem Pulver verarbeitet wurde, entdeckte der Schriftexperte Wang darauf sonderbare Kratzspuren, die sich bei genauerem Hinsehen als primitive Schriftzeichen entpuppten. Da er sich mit alten Schriften von Beruf her bestens auskannte, wurde ihm rasch einmal klar, dass er einen außergewöhnlichen Fund gemacht haben musste.
Sein Verdacht bestätigte sich bald. Was Wang in der Hand hielt, war kein gewöhnlicher Tierknochen, sondern ein dreitausend Jahre alter Orakelknochen aus der Shang-Zeit wie er im „Shàngshū", dem Geschichtsklassiker des chinesischen Altertums, detailliert beschrieben wird. Gemäß dieser Überlieferung, die von vielen Historikern mangels zeitgenössischer Quellen lange als Erfindung abgetan wurde, kannten die Shang bereits eine eigene Schrift und Transportmittel wie den Pferdewagen. Und das zu einer Zeit, als die antike Welthauptstadt Rom noch immer ein weißer Fleck auf der Landkarte war.
Wangs Entdeckung war eine wissenschaftliche Sensation. Erstmals gab es einen eindeutigen historischen Beleg für die Existenz dieser sagenhaften Dynastie, die schon im 16. Jahrhundert vor Christi Geburt und damit lange vor den antiken Hochkulturen Europas ihren Anfang nahm.