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Virtuelle Gräber? – „Den Toten ist es egal"
Allerseelen in China
  2011-10-28 14:42:00  cri

Eine ganze Reihe von chinesischen Webseiten wie „niannet" bietet diesen Service inzwischen an. Das Prinzip ist überall das Gleiche. Einmal registriert, kriegt der User ein gratis Startguthaben in Form von virtuellen Münzen, mit dem er für seine verstorbenen Verwandten ein Grab anlegen kann. Dazu muss er auf einer China-Karte zuerst einen Friedhof aussuchen. Anschließend kann er sein Grab mit einer Vielzahl von Optionen individuell ausgestalten.

Allein bei den Hintergrundbildern stehen dem User auf „niannet" über 20 Sujets zur Auswahl – darunter auch eine Alpenlandschaft. Ein anderes Portal bietet gar eine afrikanische Steppenlandschaft an. Auf dem Grabstein selber werden nur der Name und ein Foto des Verstorbenen angezeigt. Zusatzinformationen können in einem Nachruf mitsamt Fotogallerie und Videoclips aus gemeinsamen Tagen separat hochgeladen werden. Im Kondolenzbuch können andere Internetuser dem Verstorbenen und seinen Angehörigen ihr Beileid bekunden.

Bei den Opfergaben sind dem User fast keine Grenzen gesetzt. Die exquisite Speise- und Getränkekarte wartet nur schon bei den Suppen mit 17 Varianten auf. Auch bei den Grabbeigaben, die den Toten den Alltag im Jenseits versüssen sollen, ist für jedes Alter und jeden Geschmack etwas dabei: Laptops, Rollerblades, Musikinstrumente, Malsets, Schaukelstühle, Tabakpfeifen, Anzüge – das Angebot lässt nichts zu wünschen übrig. Hobby-Polarforschern kann zum Zeitvertreib gar ein Pinguin ins Totenreich nachgeschickt werden.

Obwohl es sich bei diesen Online-Friedhöfen um kommerzielle Webportale handelt, kosten die meisten ihrer Dienstleistungen noch nichts. Zum Gratisservice des vor zwei Jahren gegründeten „niannet" gehört etwa eine Fee, die nach Betätigung der Maustaste Besen schwingend übers virtuelle Grab schwebt, oder eine Gruppe von Mönchen, die für die arme Seele betet.

„Zivilisierter und umweltfreundlicher" will „niannet" das Totengedenken machen. Das ist ganz im Sinne der Regierung. Besonders das Verbrennen von Papiergeld ist ihr schon länger ein Dorn im Auge. Immer wieder kommt es dabei nämlich zu Bränden. In Beijing gab es laut der Tageszeitung „China Daily" bereits im Vorfeld des diesjährigen Totenfests an einem einzigen Tag 28 Brände, im ostchinesischen Qingdao gar zwei Tote. Auf dem Revolutionsfriedhof Babaoshan in Beijing ist das Verbrennen von Papiergeld aus Sicherheitsgründen inzwischen strikt verboten. Wer gegen dieses Verbot verstösst, dem droht im schlimmsten Fall die Verbannung seines (Urnen)Grabs vom Friedhof.

Ein weiteres, nicht zu vernachlässigendes Problem ist die Umweltbelastung: die Chinesische Verbrauchervereinigung schätzt das Gesamtgewicht der Papiergegenstände, die den Toten jedes Jahr zum Qingming-Fest geopfert werden, auf über eintausend Tonnen. Noch weitaus größer dürfte der Verbrauch von Räucherstäbchen sein.

Obwohl es umweltfreundlich, zeitsparend und obendrein noch ausgesprochen günstig ist, kann sich das Volk (noch) nicht so recht für das Online-Gedenken begeistern. Vor dem Bildschirm habe man doch „keine Gefühle", meint etwa der 30-jährige Herr Zhong aus Anyang. Li Zhen empfindet virtuelle Gräber als „nicht respektvoll genug". Der 18-jährige Student aus Shijiazhuang hat aber Verständnis für Leute, die ihren Vorfahren mangels Zeit oder Geld für die lange Reise in ihren Heimatort online Respekt zollen. Ganz anders Zhao Jing. Für den Inhaber eines Reisebüros in Beijing sind solche Leute schlicht „nicht mehr ganz bei Trost". Seiner Meinung nach ist das Gedenken vor dem PC ein Affront gegen die Tradition.

Überhaupt keine Mühe damit hat überraschenderweise der Mönch Chuanding aus dem Bailin-Tempel. Auf die Frage, was er denn von dieser neuen Gedenkform halte, antwortet der 29-Jährige pragmatisch wie ein Bürokrat: „Den Toten ist es egal! Den Toten ist es egal, wie man ihrer gedenkt!"

Die Kilbi-Atmosphäre im Bailin-Tempel verdeutlicht, was der Mönch meint. Von Andacht ist in der weitläufigen Tempelanlage an diesem religiösen Feiertag wahrhaftig nicht viel zu spüren: es wird geschwatzt, gelacht und lauthals telefoniert. Viele Besucher, vor allem junge, lassen sich beim Anzünden von Räucherstäbchen oder beim Gebet auch fotografieren – als müssten sie den Toten beweisen, dass sie ihrer im Tempel gedacht haben, und nicht etwa Zuhause vor dem Computer.

Text von Simon Gisler


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Forum Meinungen
• mengyingbo schrieb "Leben in Changshu"
seit etwas über einer Woche ist nun Changshu 常熟 in der Provinz Jiangsu 江苏 meine neue Heimat - zumindest erstmal für rund 2 Jahre.Changshu (übersetzt etwa: Stadt der langen Ernte) liegt ungefähr 100 km westlich von Shanghai und hat rund 2 Millionen Einwohner, ist also nur eine mittelgroße Stadt.Es gibt hier einen ca. 200m hohen Berg, den Yushan 虞山 und einen See, den Shanghu 尚湖...
• Ralf63 schrieb "Korea"
Eine schöne Analyse ist das, die Volker20 uns hier vorgestellt hat. Irgendwie habe ich nicht genügend Kenntnisse der Details, um da noch mehr zum Thema beitragen zu können. Hier aber noch einige Punkte, welche mir wichtig erscheinen:Ein riesiges Problem ist die Stationierung von Soldaten der USA-Armee in Südkorea...
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