In China kann man seiner Vorfahren neuerdings auch online gedenken. Die Regierung freuts. Das Volk bekundet Mühe.
Der monotone Bittgesang der kahlgeschorenen Mönche in ihren dunkelgelben Roben scheint endlos. Weihrauch liegt in der Luft. Stumm und regungslos starren die zehntausend goldenen Buddhafiguren von den Wänden herab. Draußen ist es stockfinster. Neben den 150 Mönchen haben sich noch etwa 300 Laien zum Morgengebet im Bailin-Tempel nahe der Pharma-Stadt Shijiazhuang in Nordchina eingefunden. Es ist der 5. April, der Tag, an dem im Reich der Mitte der Verstorbenen gedacht wird. Die chinesische Version von Allerseelen also.
Zur Feier des sogenannten Qingming-Fests beginnt das Morgengebet im Bailin-Tempel ausnahmsweise schon um drei Uhr. Die zweieinhalbstündige Zeremonie zu Ehren der Toten mit leerem Magen mitten in der Nacht ist für Normalsterbliche ein wahrer Härtetest. Gebetet wird abwechslungsweise stehend und kniend. Sitzbänke zum Verschnaufen gibt es nicht.
Ein echter Prüfstein für den knurrenden Magen des Laienbruders ist auch der etwa fünf Meter hohe, stufenförmig angerichtete Gabentempel direkt vor ihm. Denn die zahlreichen Erfrischungsgetränke, und die vielen Schalen voller leckerer Früchte darauf sind ausschließlich für die Toten bestimmt.
Nach chinesischem Glauben bestimmen die Geister der Toten das Schicksal ihrer noch lebenden Angehörigen ganz entscheidend mit. Die Liebsten im Jenseits bei Laune zu halten, ist für die Lebenden daher ein absolutes Muss. Dazu gehört auch der Grabbesuch während dem Qingming-Fest. Schhließlich will es sich niemand mit den allmächtigen Geistern verscherzen. Zuerst werden die Gräber geputzt und feierlich geschmückt. Anschließend Opfergaben darauf gelegt: die Palette reicht von Obst über Klebreis, gebratenen Hühnerflügeln bis hin zu Schrimps und Schokoriegeln – je nach Vorliebe des Verstorbenen.
Häufig sieht man auch Schnapsfläschchen und Zigarettenpäckchen. Mit diesen Gaben soll die „Lebensqualität" der Toten erhöht und ihr Wohlwollen gegenüber ihren noch lebenden Verwandten sichergestellt werden.
Damit sich die Toten während dem Rest des Jahres mit dem Nötigsten gleich selbst eindecken können, wird auch fleissig von der „Himmelsbank" emittiertes Papiergeld verbrannt. Sehr beliebt sind auch falsche US-Dollarnoten. Nicht etwa aus Protest gegen Washingtons jüngste Wirtschaftspolitik. Ganz im Gegenteil: der schwächelnde US-Dollar gilt im chinesischen Totenreich nach wie vor als sichere Währung.
In Südchina ist gar das Opfern von Häusern, Autos, Fernsehgeräten, Waschmaschinen und anderen Alltagsgegenständen üblich – aus Papier versteht sich. Die diesjährigen Verkaufsschlager waren originalgetreu nachgebildete Apple-Produkte. Ein Paket aus zwei farbigen iPads und vier iPhones gab es bereits zum Schnäppchenpreis von sechs Yuan (75 Rappen). Zwei Yuan mehr kosteten drei Flaschen von Chinas Edel-Schnaps Moutai inklusive Becher.
Der Totengedenktag ist im Milliardenreich China erst seit 2008 ein offizieller Feiertag. Entsprechend riesig ist der Andrang auf den Friedhöfen und in den Tempeln. Wer seine Ahnen im Bailin-Tempel ehren will, der muss bereits in den frühen Morgenstunden Warteschlangen in Kauf nehmen.
Chinesen, denen es beim blossen Gedanken an diese Menschenmassen schon Schweißperlen auf die Stirn jagt, können ihrer Liebsten neuerdings auch bequem von Zuhause aus gedenken. Einige Mausklicks genügen und schon hat man für sie ein virtuelles Grab im Internet errichtet.