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Das Können eines Kalligraphen umfasst die Kenntnis der Theorie des Schönen, sowie die Fähigkeit des Erfassens der Kunst und der Technik des Schreibens. Hinter dem lebendigen Spiel der Formen versteckt sich immer dieses Können. Es bestimmt die Güte eines Werkes, und seinen Charme. Dieses Können ist das Ergebnis des Erlernens und Meisterns der Kunst im ununterbrochenen Beobachten, Realisieren, Abstrahieren, Zusammenfassen und Begreifen. Manches daran ist einem bewusst, manches versteht man erst später. Über den Einsatz des Könnens gibt es von alters her viele Reflexionen und Legenden.
Li Yangbing, ein Meister der Siegelschrift aus der Tang-Dynastie, gewann seinen Sinn für Schönheit aus der Anschauung der Formen, Kategorien und Eigenheiten der Natur. Nach seinen eigenen Angaben erhält er von Himmel und Erde, Berg und Wasser die eckigen und runden, die fließenden und die schroffen Formen. Sonne, Mond und Sterne bringen ihm das Horizontale, das Vertikale und das Kreisende nahe. Aus den Wolkengebilden, den Gräsern und Bäumen versteht er die Vorgänge des Wachsens und Wucherns. In der Tierwelt beachtet er die Gesetze des Streckens und Sich Krümmens, der Fortbewegung und des Fliegens. Alles lässt sich jederzeit ändern und anpassen, ganz nach dem Willen des Herzens. Li Yangbings "Sanfenji" "Drei legendäre alte Schriften [Drei Gräber]" hat eine wunderbar feine Pinselführung. Die Striche sind rund und ausgewogen, dünn und schwebend. Man spricht von einer "Siegelschrift der Essstäbchen aus Jade". In der ganzen Tang-Dynastie gab es nicht seinesgleichen.
Lei Jianfu aus der Song-Dynastie hörte aus dem Rauschen eines Flusses heraus, wie er den Pinsel bewegen sollte. Er versuchte in der Schreibschrift die Natürlichkeit der alten Meister zu erreichen, war aber nie mit seinen Ergebnissen zufrieden. Als er dann in Sichuan eine Präfektur leitete, hörte er eines Tages zur Stunde der Mittagsruhe das Geräusch des jäh anschwellenden Flusswassers, und dachte dabei an die eilenden Wellen des ganzen Stromes. Er stand auf, breitete Papier aus und begann zu schreiben. Das rhythmische Schlagen und die potentielle Energie des Flusses konnte er jetzt mit dem Pinsel spüren. Seine Schreibkunst hatte einen großen Fortschritt erzielt.
Zhu Changwen aus der Song-Dynastie sagte über die Kalligraphie von Yan Zhenqing aus der Tang-Dynastie: "Die Punkte sind wie fallende Steine, die waagrechten Striche wie Wolken im Sommer, die Haken fest wie aus Bronze gegossen, die langen Haken schnellen wie Pfeile von der Armbrust." Fallende Steine, Wolken im Sommer, ein Haken aus Bronze, und die von einer Armbrust geschnellten Pfeile, das sind alles sehr konkrete Dinge und Bewegungen. Der Kalligraph muss diese Formen in der Natur und im Leben einfangen, das ist ein Prozess des Zusammenfassens und Abstrahierens. Auf dem Papier will man keine Steine, Wolken, Metalle oder Armbrüste sehen, sehr wohl aber das Fallen, das Krümmen, das Losschnellen, sowie die graziösen und gelösten Gesten der Wolken mit ihren stetig veränderlichen Gebilden. Yan Zhenqing ist namhaft wegen seines starken Könnens, seines außerordentlichen Erkenntnisvermögens in der Ästhetik, nicht zuletzt aber auch wegen seiner Fähigkeit, Kühnheit, und Einsicht, mit denen er die Kalligraphie erneuerte.
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