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Kalligraphie ist die Quintessenz der chinesischen Kultur. Von alters her bis zum heutigen Tag gibt es sicher mehr als tausend Arten von Schrift auf der Welt. Alle halten Ereignisse fest und geben Botschaften weiter, das ist der tägliche Gebrauch. Alle achten auf die Schönheit der Zeichen, und die Schrift hat etwas von Kunst an sich. Abseits der festgelegten Notwendigkeit wird auch zur Zierde geschrieben. Aber eine eigene Sparte der Kunst hat sich nirgends daraus entwickelt. Nur die chinesischen Zeichen bilden außerhalb des täglichen Schreibens eine selbständige Kunstrichtung. Tausende Jahre schon hat sich die Kalligraphie in diesem riesigen Land großer Beliebtheit erfreut. Sie ist ein Mitglied in der Familie der Künste, wie die Malerei, die Plastik, die Dichtung, die Musik, der Tanz und das Theater.
Kalligraphie gibt es wirklich überall in China. Sie ist eng verbunden mit dem täglichen Leben. Von allen Künsten wird sie am meisten ausgeübt, geschätzt und gepflegt.
In jeder belebten Straße hängen Ladenschilder mit Schriftzeichen von berühmter Hand. Im Trubel des Konsums leiht die Kalligraphie etwas vom Glanz, von der Eleganz alter Kultur. Mitten in der Hektik des Handels gibt die Schriftkunst Maß und Muße.
Kalligraphie schmückt Wohnzimmer, Arbeitsraum und Schlafstätte. Die Werke sind auf stark saugfähigen "Xuan" [hsüän] - Papier geschrieben. Sie werden mit festem Papier und Seidenrand an einer Rolle aufgezogen oder in einem Rahmen aufgehängt. Meistens ist es ein vom Hausherrn besonders geschätztes Gedicht oder ein Spruch; hat er es selbst angefertigt, zeugt es noch viel mehr von seinem Geschmack, seinem Talent und Geist. Weiße Wände gewinnen an Glanz, Gäste und Freunde lächeln bewundernd.
Zum größten traditionellen Feiertag, dem Frühlingsfest, wird Kalligraphie auf zwei rote Papierstreifen geschrieben. Diese "Chun Lian" [liän] klebt man an das Haustor, die Wohnungstür, an die Mauer oder an Säulen. Überall verbreiten sie festliche Stimmung. Die Sprüche beinhalten gute Wünsche für das kommende Jahr: Frieden im Land, Gesundheit und Gedeihen in der Familie, reiche Ernte und ein langes Leben.
Ausgesuchte Zeichen schmücken die Titel von Zeitungen und Büchern. Die sechs Zeichen für Zhong Guo Ren Min Yin Hang, "Nationalbank der Volksrepublik China" auf den Geldscheinen, welche jeden Tag durch abertausend Hände gehen, stammen auch von einem renommierten Meister. Im Hochsommer verwenden viele beschriebene Fächer, da kann man sich Wind zufächeln, aber auch Eleganz und Bildung zeigen. Es ist nicht übertrieben, zu behaupten, dass die Chinesen von der Geburt bis zum Tod schicksalshaft mit der Schrift verbunden sind: Im ersten Fotoalbum nach dem freudigen Ereignis trägt die ältere Generation ihre Glückwünsche mit dem traditionellen Pinsel ein. Bei der Hochzeit sind die Kopfkissen mit den beiden Zeichen für 'Doppelte Freude' bestickt. Zum Geburtstagsfest hängt man eine Kalligraphie mit einem großen "Shou" auf, das ist das Zeichen für ein langes Leben. Und am Ende stehen auf dem Grabstein einige Worte von berühmter Hand über das Leben des Verstorbenen.
Reisende in China können bei jeder besonderen Landschaft und Sehenswürdigkeit herausragende kalligraphische Werke auf Pagoden und Türmen, in Gärten und Parks bewundern. Die auf Holztafeln geschnitzten oder in Felsen gemeißelten Zeichen reflektieren die Schönheit der Umgebung, sie verschmelzen mit ihr zu einem harmonischen Ganzen. Ungefähr 300 km östlich von Peking endet die große Mauer bei Shanhaiguan direkt am Meer. Der Hauptturm wurde 1381 erbaut. Man steigt hinauf, betrachtet den Ozean und läßt den Blick über die majestätischen Berge auf beiden Seiten der Grenzpässe schweifen. Hoch oben auf dem Wachturm hängt ein rechteckiges Schild mit fünf großen, wuchtig und schwungvoll ausgeführten Zeichen: Tian Xia Di Yi Guan - Der erste Durchgang unter dem Himmel. Der Spruch passt perfekt in die Landschaft. Er soll von Xiao Xian [hsiäu hsiään] stammen, dem Meister aus der Ming-Zeit.
Wenn Sie den berühmtesten Berg Chinas besuchen, den Taishan in der Provinz Shandong, sollten Sie bei dem auf der Ostseite des Weges gelegenen Gipfel der Drachenquelle (Long Quan Feng) die "Mo Ya Ke Shi" von Jing Shi Yu bewundern. Jing Shi Yu heißt die Schlucht der Schriften in Stein. Ya bedeutet Klippe, Mo und Ke bezeichnen das Reiben und Meißeln der Zeichen in die Felswände. Vor über 1400 Jahren wurde dort die Diamant-Sutra des Buddhismus (Jin Gang Jing) auf 6000 m2 Steinfläche geschrieben. Ursprünglich waren es 3017 Zeichen, bis heute haben 1067 davon den langen Jahren widerstanden. Jedes Zeichen misst ca. 35 cm im Quadrat, die größten erreichen fast 50 cm Seitenlänge. Mitten zwischen den Gipfeln und Graten, auf der Felsfläche neben sprudelndem Wasser, gerade hier haben Menschenhände ein solches Wunder an Kraft und Anmut geschaffen. Die Kühnheit der Planung und die perkekte Ausführung lassen uns wirklich erstaunen.
In Shaoxing in der südlichen Provinz Zhejiang wird man Sie zu der südwestlich außerhalb der Stadt gelegenen "Lan Ting", der Orchideenpagode führen, das ist die erste Kultstätte der Kalligraphie Chinas. An einem klaren Frühlingstag des Jahres 353 lud der später als Unsterblicher Kalligraph bezeichnete Wang Xizhi 41 berühmte Gelehrte an diesem von Bäumen und Bambus reich umstandenen, links und rechts von Bächen durchzogenen Ort, um zu trinken und Gedichte zu schreiben. Der Gastgeber selbst fertigte in guter Laune ein 324 Zeichen langes Vorwort an, das "Lan Ting Xu". Der Grundton des Textes ist Freude, mit Seufzern von Bewegtheit. Und die Kalligraphie ist eine lyrische Melodie von klarem Rhythmus, entstanden aus lebendiger Anmut und reicher Variation im Ausdruck. Später nannte man dieses Werk "die erste Schreibschrift unter dem Himmel". Leider hat sich der zweite Kaiser der Tang-Dynastie, Li Shimin, selbst ein namhafter Kalligraph, das Original des "Lan Ting Xu" als Grabbeigabe gewählt. Wir verwenden heute eine von mehreren Kopien.
In Xi'an, der alten Hauptstadt im Westen, gibt es einen Bei Lin, d.h. "Stelenwald". Er versammelt über 2000 berühmte Inschriften auf Gedenk- und Grabsteinen und von Pagoden, entstanden in der Han-Dynastie und in der Tang-Dynastie, aufgestellt in verschiedenen Hallen, Gängen und Pavillons. Nirgends gibt es mehr von dieser Art von Kalligraphiedenkmälern in China. Mit dem Bau des Stelenwalds wurde 1087 begonnen. Jetzt ist er ein Teil des Provinzmuseums von Shaanxi, und ein nationales Kulturdenkmal von höchstem Rang.
In der Kalligraphie gibt es strenge Maße und Kriteria für die Technik und für die Einschätzung. Die Kunst des Pinselstrichs offenbart des Schreibers Grad an Bildung, seine Virtuosität, sein Denken und sein Wertgefühl. Von alters her sind unter den besten Kalligraphen viele Maler, Literaten, Denker, Staatsmänner und Gelehrte. Wer ihre kalligraphische Leistung lobt, wird auch ihre sonstigen Leistungen erwähnen. Anders gesagt, ihre gute Kalligraphie wird als Ausdruck von hoher Begabung und Bildung auf vielen Gebieten verstanden.
Kalligraphie ist die erste Kunst, mit der ein junger Mensch in Berührung kommt. Wenn die Eltern und die Lehrer den Kindern Lesen und Schreiben beibringen, gehört auch die Übung mit dem Pinsel dazu. So merken sich die Kinder die schwierigen Zeichen besser, und bekommen gleichzeitig ihre erste Lektion in Ästhetik, Kunstverständnis und Schöpferkraft. Das wird ihnen ihr ganzes Leben von Nutzen sein.
Kalligraphie nennt man Malerei ohne Gegenstände, Musik ohne Ton, Tanz ohne Tänzer, Architektur ohne Bauteile oder Material. Diese Vergleiche kommen aus einem Gefühl der Verbundenheit, das beim Genuß von Kunst auf höchstem Niveau entsteht, gleich auf welchem Gebiet. Form, Anordnung und Ausführung der Linien weisen direkt und in abstrakter Art auf die Faktoren gestalterischer Schönheit hin: Balance, Verteilung, Unebenheiten, Zusammenhang, Kontrast und Verhältnis, Wechsel und Veränderung, Harmonie, etc. Daher kommt die Stellung der Kalligraphie im Zentrum der Künste. Alle ihre Schwesterkünste messen sich an der Kalligraphie, beziehen von ihr Anregung und Inspiration, das gilt natürlich auch umgekehrt.
Kalligraphie gleicht der Musik, überall geht es um Rhythmus. Wie das ständige Pulsieren und Pochen, die Bewegung und Veränderung in der Musik, so ist es mit Punkt und Strich auf dem Papier: Grob und fein, leicht und schwer, rund, eckig, gekrümmt und gerade, langsam verweilend oder scharf und schnell, stark und leicht, trocken und feucht, alle diese Variationen der schwarzen Farbe vermitteln ein deutliches Gefühl von Takt und Maß. Beide Künste bringen die Herzensbewegung des Komponisten, bzw. des Ausführenden zum Ausdruck. Kein Wunder, dass es in Kommentaren von Kennern seit alter Zeit immer wieder heißt, jemandes Kalligraphie sei wie ein bis in die Dachbalken aufsteigendes Lied, oder eine von Meisterhand gespielte Weise, welche die Sinne verwirrt.
Der Kalligraphie geht es wie auch dem Tanz um Gestalt und Dynamik. Beide sind gleichzeitig durch eine Kunst des Raumes und eine Kunst der Zeit gekennzeichnet, deshalb können sie einander bezaubern und inspirieren. Der große Meister der Grasschrift aus der Tang-Dynastie Zhang Xu mit seiner phantastischen Vielfalt an Strichen und dem charakteristischen Rhythmus betrachtete, so heißt es, den Schwertertanz von Gong Sun da niang (Frau Gong Sun), spürte den Geist darin und kam erst dadurch zu seiner unverwechselbaren Kunst. Dieser "Geist" des Tänzers bringt aus dem klaren Rhythmus und der Anmut der Bewegung Reiz und Empfindung von vielerlei Art hervor: Lebendigkeit und Frohsinn, Trauer und Wut, Erwartung und Verlangen, Kühnheit und Begeisterung. Die ausgelassene Grasschrift von Zhang Xu, die Dichtkunst von Li Bai, der Tanz von Pei Min, das waren in den Augen des damaligen Kaisers die "San Jue", "Drei Ideale". Gu She Si Tie ?Vier Kopiervorlagen mit Gedichten im alten Stil" ist eines der wenigen erhaltenen Werke aus der Hand von Zhang Xu. Seine Zeichen sind oft von oben nach unten verbunden, die Schrift wirkt wie ein einziges Zeichen, fortlaufende Wellen hin und zurück, ein einziger Schwung. Die Abstände zwischen den Zeichen sind sehr unterschiedlich.
In den 1980er Jahren hat eine Fernsehstation in Peking den Kunstfilm Mo Wu "Tanz der Tusche" ausgestrahlt. Da kamen Kalligraphie und Tanz in einem auf die Mattscheibe: Zuerst erschien ein Zeichen, dann wurde die Gestalt dieser Kalligraphie von Tänzern verarbeitet. Die geschmeidigen Schritte und das Wiegen der Hüften, begleitet vom Wohlklang der Musik, entführte die Zuschauer ins Land der Phantasie. Tanz erläuterte und kontrastierte die Schrift, umgekehrt wurde durch die Kalligraphie auch der Tanz verdeutlicht. Beide werden auf einer höheren Ebene verstanden.
Mit ihrer Schwester, der chinesischen Malerei, ist die Kalligraphie noch enger verbunden. Sie verwenden dasselbe Werkzeug: Pinsel (bi) und Xuan-Papier. Nur ist die Kalligraphie eben auf schwarze Tinte beschränkt, während der Malkunst alle Farben zu Gebote stehen. Schrift und Malerei werden auf vielen Gebieten als eine Verbindung der Künste betrachtet. Buchhandlungen stellen Bücher und Bilder in einem Raum zum Verkauf aus. Manche Ausstellungen kombinieren Bücher und Bilder. Maler lassen oft einen Teil des Bildes frei, dorthin kommt ein altes Gedicht oder sonst ein poetischer Text, welcher den Reiz des Gemäldes vermehrt. Wenn der Maler auch der Dichter ist, sind Idee und Empfindung noch dichter ausgemalt. Poesie, Kalligraphie und Malerei treffen sich in diesen "sprachlichen Bildern". Früher gab es den Ausdruck "San Jue" für einen dreifachen Meister auf den Gebieten von Dichtkunst, Malerei und Kalligraphie. Seit der Tang-Dynastie hat jedes Zeitalter zahlreiche derartige Meister hervorgebracht.
Auch im Bereich der künstlerischen Technik haben Kalligraphie und Malerei schon immer voneinander profitiert. Wenn die traditionelle chinesische Malerei nicht durch die Handhabung von Pinsel und Tusche in der Kalligraphie inspiriert worden wäre, und zwar besonders im abstrakten Umgang mit Sinn und Bedeutung, hätte sie wahrscheinlich nie angefangen, sich aus den Beschränkungen einer reinen Abbildungsästhetik zu lösen. Der freie, ausgesprochen reizvolle Xieyi-Stil in der Tuschmalerei ist gerade durch die Anregung aus der Grasschrift mit ihrer prägnanten, losgelassenen, fließenden Pinselführung entstanden. Ein gutes Beispiel sind die Garnelen des Xieyi-Meisters Qi Baishi aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mit blasser und dunkler Tusche, mit wenigen knappen Strichen schwimmen auf einmal zwei krabbelnde Wesen im Wasser. Auf dem Bild gibt es keine Linien, welche Wasser andeuten, und dennoch hört man das Murmeln des Baches, ja man spürt sogar den frischen Duft von klarem Nars.
Die Stellung und die Verwendung der Kalligraphie am Angelpunkt der Künste ist mit den Zahlen in den Naturwissenschaften, wie etwa Physik, Chemie, Geologie und Meteorologie vergleichbar. Mathematische Theorie ist ziemlich abstrakt, aber sie reflektiert eben die Vertiefung der Beziehungen zwischen der Mathematik und der Welt. Daher legen Schulen und Universitäten aller Art großen Wert auf Unterricht in Mathematik. Naturwissenschaftler aller Richtungen stützen sich durchwegs auf ihre grundlegenden mathematischen Kenntnisse, wenn sie die Geheimnisse ihres Faches ergründen. Da fällt mir ein 2500 Jahre altes Wort des großen Philosophen Laozi ein: Es ist der letzte Satz des ersten Kapitels im Dao De Jing. "Xuan zhi you xuan, zhong miao zhi men" -vom Geheimnis im Geheimnis ist die Rede, von der Tür zu allem Wunder, auch der Meisterschaft in der Kunst. Man verzeihe mir die Anmaßung. Ich sage: Die Kalligraphie Chinas ist das große Tor für das Meistern der Künste, in ihr liegt der tiefste Sinn der Kunst verborgen. [Zur Aussprache: Das i nach zh, ch, sh, s und r wird als 'stumm' angesehen, es klingt ähnlich wie ein türkisches z, das i ohne Punkt.]
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