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Einst gab es an der Großen Mauer einen großen und mächtigen General, der mit Feder und Waffe gleich gut umzugehen wusste. Im Unterschied zu anderen Generälen nahm er Rücksicht auf das einfache Volk und kümmerte sich um die Menschen.
General Shi kam aus Südchina, lebte aber in Nordchina und verbrachte lange Zeit in einer Garnison an der Großen Mauer. Kurz nach Dienstantritt begab er sich mit seinen Offizieren auf eine Inspektionstour entlang des unter seiner Verwaltung stehenden Mauerabschnitts. Danach machte er Pläne zum Ausbau und zur Verstärkung des Gemäuers sowie zur Verteidigung des Bauwerks. Er verlegte Truppen und rekrutierte Arbeiter aus der Landbevölkerung, die die Große Mauer reparierten. Einige Monate später waren niedrige Mauerstellen angehoben und schmale Stellen verbreitert. Abgebrochene Zinnen wurden ausgebessert und die Festungen bekamen ein völlig neues Gesicht.
Entlang der Großen Mauer stationierte General Shi ausreichend starke Truppenkontingente, die mit Schwert, Speer, Pfeil und Bogen sowie Kanonen bewaffnet waren. Außerhalb der Mauer wurden Graben und Fallgruben ausgehoben. Die Marschroute des Feindes war mit zahllosen Fußangeln ausgelegt. Der Mauerabschnitt, für den General Shi verantwortlich war, konnte zu Recht als eherne Festung bezeichnet werden.
Er ließ seine Soldaten Brachland urbar machen. Auf dem ebenen Gelände und am Fuß des Gebirges wurden Weizen und Mais angebaut und in der Nähe der Festung Gemüse gezogen. Und an den Berghängen wurden Apfel-, Bim- und Pfirsichbäume gepflanzt. So hatten die Soldaten nicht nur genügend Getreide, sondern auch frisches Gemüse und Obst.
Auch außerhalb der Großen Mauer war der Boden sehr fruchtbar. Es wäre jammerschade gewesen, dieses Land brachlegen zu lassen. General Shi vereinbarte mit dem Anführer der Hunnen, die außerhalb der Großen Mauer lebten, daß die Soldaten fünf Kilometer hinein ins Weideland der Hunnen Ackerbau betreiben dürften.
Dank des Fleisses der Soldaten und der Grenzbevölkerung wuchsen die Feldfrüchte innerhalb und außerhalb der Großen Mauer sehr gut. Der Weizen trug lange Ähren und der Mais große Kolben. An den Obstbäumen hingen viele saftige Früchte. Auch Hühner, Enten und Schweine wurden gezüchtet.
Der Anblick machte den Anführer der Hunnen neidisch. Die Hunnen aßen zwar Fleisch und tranken Milch, sie trugen warme Pelzkleidung, aber Salz, Getreide und Tee hatten sie nicht. Deshalb führte der Anführer der Hunnen seine berittenen Truppen hierher. Die Hunnen nahmen sich, was sie entbehrten: Getreide, Salz, Tee und Hühner. Sie fingen auch einige der Bewohner und verbrannten deren Häuser. General Shi schickte Truppen, die die Hunnen verfolgen sollten, aber diese waren zu schnell weg.
General Shi war einerseits entschlossen, die Bevölkerung an der Großen Mauer zu schützen, andererseits konnte er sich auch nicht überwinden, einen Vernichtungsschlag gegen die Hunnen zu führen. Seit langer Zeit hatte man in unmit-talbarer Nähe der Hunnen gewohnt, die auf dem weiten Grasland ihre Rinder, Schafe und Pferde züchteten. Man war an den Anblick der in Gruppen zusammenstehenden Jurten und der Schafherden, die wie weiße Wolken über die Steppe zogen, gewöhnt. Die Bauern innerhalb und außerhalb der Großen Mauer und die Hirten der Hunnen hatten lange in
Eintracht gelebt. Durch Heirat waren sogar verwandtschaftliche Bande geknüpft worden. Die berittenen Hunnen-Truppen durften sich der Großen Mauer nicht wieder nähern, aber wie war das zu verhindern?
Die Mauer fünf Kilometer vorzuverlegen war zu mühsam und kostete zuviel Zeit und Geld. Eine erneute Vereinbarung konnten die Hunnen genauso einfach brechen wie die erste. General Shi verging vor lauter Sorgen der Appetit. Seine Frau, die ihm in Sojasoße gekochtes Fleisch mit Pilzen zubereitet hatte - sein Lieblingsgericht - , mußte das Essen mehrmals aufwärmen, aber er schien es gar nicht zu sehen.
Der General wurde immer magerer. Schließlich sagte seine Frau, die ihren Mann innig liebte:"Kann man um das Gemüse keinen Zaun bauen?"
General Shi antwortete:"Wie kann eine Zaunwand die Pferde der Hunnen aufhalten?"
"Vielleicht könnte man mit Kanonen soweit schießen!" erwiderte seine Frau darauf.
Der General dachte darüber nach, daß die kupfernen Kanonen, die man zur Zeit benutzte, einen kleinen Rohrdurchmesser und ein kurzes Geschützrohr hatten. Damit ließ sich nicht weit schießen. Deshalb konnten sie auch nur benutzt werden, wenn Feinde sich der Großen Mauer unmittelbar näherten. Ob es möglich ist, Kanonen mit dicken und langen Geschützrohren herzustellen, um so eine größere Schußweite zu erreichen? dachte General Shi bei sich. Es wäre am besten, eine Kanone mit einer Schußweite von genau fünf Kilometern zu gießen. Auf diese Weise würden die Hunnen-Hirten nicht von Geschossen getroffen, und auch auf der eigenen Seite würde kein Schaden entstehen.
General Shi ging in die Hauptstadt und besprach sich mit dem Minister des Amts für Kriegswaffen, der in erster Linie für die Herstellung von Kanonen verantwortlich war. Dann redete er mit den Schmieden. Die Antwort war immer dieselbe: Eine Kanone mit einer so großen Schußweite habe man noch nie hergestellt. Um eine solche Kanone herstellen zu können, müßte nicht nur das Eisen, sondern auch das Schießpulver von besonderer Qualität sein, was bis jetzt noch nicht erreicht sei.
Der General suchte alle seine alten Vorgesetzten und Freunde auf, um sie um Hilfe zu bitten. Seine Entschlossenheit führte schließlich zum Erfolg. Nach zahlreichen Versuchen gelang es, eine Kanone mit der entsprechenden Schußweite herzustellen, und auch die Qualität des Schießpulvers wurde verbessert.
General Shi ließ die neuen Kanonen in großen Mengen herstellen. Zu dieser Zeit herrschte innerhalb und außerhalb der Großen Mauer ein reges Treiben: Hochöfen standen in einer Reihe nebeneinander, Menschen schoben Karren mit Eisen und Kohlen. Über der Nacht lag der Widerschein der Ofenglut.
Nach einem halben Jahr hatte man 9999 neue Kanonen hergestellt. General Shi ließ sie am Festungstor und entlang des Bergpasses aufstellen. Als die Hunnen kamen, wurde aus allen Kanonen gleichzeitig geschossen, so daß eine Feuerwand entstand, die das weitere Vorrücken der Hunnen verhinderte. Die Bauern und Hirten innerhalb und außerhalb der 5-Kilometer-Zone blieben so unverletzt. Von da an führten alle ein ruhiges und arbeitsames Leben. Zur Erinnerung an General Shi nannte man seine Kanone "Der Unbesiegbare Große General".
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