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Von Panoramastruktur zu Struktur mit partiellem Fokus
Das 11. und das 12. Jahrhundert waren eine Periode, in der die Herrscher der Song-Dynastie durch die ständigen Invasionen des Reiches Jin, das von einem Volksstamm in Nordostchina gegründet worden war, gezwungen wurden. Nordchina zu verlassen und ihr Machtzentrum nach Lin'an (heute Hangzhou) in Südostchina zu verlegen. In der Geschichte wurden ihre Dynastien als Nördliche bzw. Südliche Song-Dynastie bezeichnet. Der Machtwechsel war begleitet von einer großen Veränderung in der Landschaftsmalerei: von einer Panoramastruktur zu Struktur mit partiellem Fokus.
Beginnend mit der Fünf Dynastien im 9 Jahrhundert, malten fast alle Maler Bilder mit einer Panoramastruktur, d.h., sie malten die Landschaft in deren Ganzheit. Sie malten z.B. einen Berg von seinem Gipfel bis seinem Fuß, was einen imposanten Eindruck erweckte. Ein repräsentatives Werk für diesen Stil ist das Bild "Reise ins Xishan-Gebirge" (Xi Shan Xing Lü Tu) von Fan Kuan, einem Maler, der in der Song-Dynastie lebte, das im Palastmuseum in Taipeh aufbewahrt wird. Das Bild stellt hohe Berge in Nordchina dar und macht einen imposanten Eindruck.
Die Nördliche Song-Dynastie ging im Jahr 1127 zu Ende, als die Soldaten des Reiches Jin ihre Hauptstadt Bianliang (heute Kaifeng) eroberten und den Song-Kaiser gefangen nahmen. Der Überrest der Song-Herrschaft floh nach Südchina und gründete die Südliche Song-Dynastie mit Lin'an als ihre Hauptstadt.
Die Verlagerung der Song-Macht von Nordchina nach Südchina war begleitet von einem interessanten Phänomen: Die Bilder mit Panoramastruktur wurden durch Bilder mit partiellem Fokus ersetzt. Manche Kritiker meinten, dass das mit der Okkupation Nordchinas durch einen fremden Volksstamm zu tun habe. Was die Maler malten, sei nichts anderes als "unvollständige Landschaft".
Diese Interpretation scheint ein bisschen an den Haaren herbeigezogen zu sein. Eine noch rationellere Interpretation ist folgendes: Als der Song-Hof nach Süden verlegt wurde, siedelten viele Maler, die in der nordchinesischen Malakademie gearbeitet hatten, auch nach Südchina um und ließen sich dort nieder. Südchina unterscheidet sich hinsichtlich der topographischen und klimatischen Bedingungen von Nordchina, was sich unvermeidlich in den Köpfen der Maler widerspiegelten. In der Nähe von Lin'an, der Hauptstadt der Südlichen Song-Dynastie, gibt es keine hohen Berge wie in Nordchina. Die Maler sahen eine ganz anderen Szenerie: steile Berge, murmelnde Bäche und in Dunst gehüllte Wälder. Wenn sie mit ihren Pinseln das, was sie sahen, wiedergaben, brachten sie natürlich andere Bilder zustande. Das ist der Grund, warum die Landschaftsmalereien der Nördlichen und der Südlichen Song-Dynastie verschieden sind.
Der Maler, der den Übergang von einer Panoramastruktur zu einer Struktur mit partiellem Fokus am besten repräsentierte, war Li Tang, der in den letzten Jahren der Nördlichen Song-Dynastie und in den ersten Jahren der Südlichen Song-Dynastie künstlerisch tätig war. Seine frühen Werke haben eine Panoramastruktur, während seine späteren Werke Zeichen für eine Struktur mit partiellem Fokus zeigen. Repräsentanten der Schule für die Malerei mit partiellem Fokus waren Ma Yuan und Xia Gui, die nach Li Tang vorkammen.
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