„Jiao Mai" – der Singsang der Hausierer – gehörte im Beijing des frühen 20. Jahrhunderts zum Alltag. Vor 60 oder 70 Jahren gab es noch keine Warenhäuser und Supermärkte. Wer Artikel des täglichen Bedarfs brauchte, deckte sich stattdessen bei fliegenden Händlern und Hausierern mit dem Notwendigsten ein. Der widerhallende, melodische Singsang der Straßenhändler war informativ und unterhaltsam zugleich, und in jedem Haushalt gut zu hören. Heute erinnern sich allerdings nur noch die älteren Generationen an ihn.
Jeden Tag am frühen Morgen ertönte jeweils laut und wie aus dem Nichts der Ruf „Dao Shui" – und jeder wusste, dass der Trinkwasser-Lieferant im Anmarsch war. Als letzter die Runde machte am Abend der Nachttopf-Verkäufer. Sein melodischer Singsang „Ye Hu" läutete für gewöhnlich das Ende des Tages in den Hutongs ein.
Immer nur am 2. Tag des ersten Monats nach dem chinesischen Mondkalender waren die Rufe der Karpfen-Händler zu vernehmen. Der Grund: in Beijing ist es am 2. Tag des neuen Jahres seit altersher Usus, dem Gott des Reichtums einen lebendigen Karpfen zu opfern. Die fliegenden Händler zogen mit Holzbecken voller roten Karpfen durch die Hutongs und sangen dabei rhythmisch ihren Singsang.
Sobald Straßenhändler mit Zwiebeln und Schnittlauch auftauchten, wusste jeder in den Hutongs, dass der Frühling Einzug gehalten hatte. Die Händler transportierten ihr Gemüse in Weidekörben, die sie auf ihren Armen trugen, und riefen dabei immer wieder lautstark:
In der Hitze des Sommers schmeckte eine Schale mit eiskaltem Pflaumensaft begleitet vom wohlklingenden Gesang des Verkäufers besonders erfrischend.
Der traditionelle Singsang der fliegenden Händler in den Beijinger Hutongs ist eng mit dem Inhalt von Balladen verknüpft. Sein Klang wiederum wurde bekannten Volksliedern nachempfunden.
Zang Quanjiang ist der zweite Sohn von Zang Hong, der in Beijing als „König der Hausierer" bezeichnet wurde. Seiner Meinung nach ist der Singsang „Jiao Mai" ein lebendiges Abbild des Beijinger Dialekts:
„Beim Singsang der Beijinger Hausierer handelt es sich normalerweise um Kanzonetten mit ganz bestimmten Rhythmen. Alle Wörter strahlen Lebenskraft und Humor aus und sind leicht verständlich. Zudem widerspiegeln sie die Geschichte und den Charakter der Stadt."
In jedem Stadtteil klang der Singsang der Hausierer ein wenig anders. Mit gutem Grund wie Zang Hong zu erzählen weiß:
„Die Verkaufsrufe der Hausierer im Norden der Stadt unterschieden sich beispielsweise von jenen im Süden. Die Händler im Norden verliehen ihren Rufen mit Vorliebe einen ausgedehnten Klang, weil die Häuser dort in größeren Wohnhöfen untergebracht waren als im Süden. Damit sie von den Bewohnern überhaupt gehört werden konnten, mussten sie ihre Töne länger machen."
Heute sind diese lebhaften Rufe leider kaum noch zu hören, weil es in den Hutongs fast keine Hausierer mehr gibt. Damit die Singgesänge nicht gänzlich verloren gehen, wurden sie von der Beijinger Regierung im Jahr 2007 in die Liste des immateriellen Kulturerbes aufgenommen.
In den letzten Jahren wurde viel getan, um diese Kunstform zu bewahren. Das Zentrum zum Schutz von Beijings Immateriellem Kulturerbe im Bezirk Dongcheng beispielsweise hat begonnen, das noch vorhandene Material über die fliegenden Händler zu sammeln und zu sortieren. Parallel dazu hat das Zentrum die „Old Beijing Folk Art Troupe" ins Leben gerufen. Die Truppe hat die Kunst des Hausierens schon an verschiedenen Orten aufgeführt. Besonders erfreut ist Zentrumsleiter Yang Jianye über die Zusammenarbeit mit den Beijinger Universitäten und Hochschulen:
„Die Kunst der Beijinger Hausierer hat inzwischen auch die Universitäten und die Hochschulen der Stadt erreicht. Die jungen Leute haben diese Kunstform positiv aufgenommen. Die Pädagogische Universität Beijing beteiligte sich sogar an der Digitalisierung dieser Kunst in Form von Büchern und CDs, um sie weiterzuentwickeln."
Bei den älteren Generationen in Beijing wecken die gelegentlichen Rufe der Hausierer Erinnerungen an längst vergangene Tage. Wann immer sie die klangvollen Stimmen mit ihren widerhallenden Rhythmen hören, sehen sie vor ihrem geistigen Auge Alltagsszenen aus dem alten Beijing.