Der Artikel im Wortlaut:
Gemeinsam auf der Überholspur
Von Li Keqiang
China und Deutschland arbeiten wirtschaftlich exzellent zusammen. Das bisher Erreichte ist aber erst ein Anfang.
In den nächsten Tagen werde ich wieder Deutschland besuchen, mit dem Ziel, die Zusammenarbeit zwischen China und Deutschland umfassend voranzutreiben. Dabei stellen sich einige Fragen, die sich zum einen in dem geschichtlichen Kontext und dem aktuellen Bedürfnis der deutsch-chinesischen Kooperation, und zum anderen in Chinas Politik der Reform, Öffnung sowie in Chinas Entwicklung beantworten lassen.
Warum kommen China und Deutschland sich immer näher?
Der Grund ist ganz einfach. Weil beide Seiten immer mehr gemeinsame Interessen teilen und weil sie einander zunehmend brauchen. In den letzten Jahren hat sich die Zusammenarbeit zwischen China und Deutschland rasch entwickelt. Beide Länder betrachten ihr Gegenüber als einen der wichtigsten Wirtschaftspartner. Unser gemeinsames Vorgehen in der internationalen Finanzkrise hat diese Bindungen noch gefestigt. Die chinesisch-deutsche Zusammenarbeit ist zur Lokomotive für die chinesisch-europäische Zusammenarbeit geworden, unser bilateraler Handel macht 30 Prozent des gesamten Handels zwischen China und der EU aus. Nach der Statistik des chinesischen Handelsministeriums stiegen die deutschen Investitionen in China 2012 um 28,5 Prozent auf 1,45 Milliarden Dollar. Gemessen an der Zahl der Investitionsprojekte in Deutschland stand China auf dem dritten Platz, davor lagen nur die USA und die Schweiz. Angesichts der schwächelnden Weltkonjunktur können sich diese Ergebnisse durchaus sehen lassen.
Unsere Zusammenarbeit hat die Entwicklung im jeweils anderen Land gefördert. Chinas Stärke liegt in der Größe seines Marktes. Bei Forschung und Entwicklung, Betriebsmanagement und Verfahrenstechnik hat es jedoch viel von Deutschland gelernt. Deutschland ist ein dauerhafter Kooperationspartner für China in seinem Modernisierungsprozess. Unsere Zusammenarbeit hat Deutschlands Wirtschaftswachstum ebenfalls Dynamik verliehen. 30 Prozent des globalen Absatzes von VW entfallen auf den chinesischen Markt. Für BMW ist China weltweit der größte Einzelmarkt, für Siemens und BASF jeweils der drittgrößte Markt weltweit.
Können China und Deutschland die Erfolgsgeschichte ihrer Zusammenarbeit fortsetzen?
Die Antwort lautet ja. Im Moment hat unsere Zusammenarbeit einen neuen historischen Rekord erreicht. Jedoch besagt ein chinesisches Sprichwort, dass man viel mehr erreichen kann als das Erreichte. Mit etwas mehr als 160 Milliarden Dollar macht unser bilateraler Handel lediglich vier Prozent des chinesischen Außenhandels in Höhe von 3,8 Billionen Dollar aus. Auch an den wachsenden chinesischen Auslandsinvestitionen hat Deutschland nur einen verhältnismäßig geringen Anteil. Indem China und Deutschland einander fördern und gemeinsam wachsen, haben wir große Perspektiven.
Zugleich bietet Chinas eigene Entwicklung noch enormes Potenzial. Bis 2020 werden sich das Bruttoinlandsprodukt und das Einkommen der Bevölkerung im Vergleich zu 2010 verdoppeln. China hat 1,3 Milliarden Einwohner, es arbeitet daran, die Industrialisierung, den Einsatz von Informationstechnologien, die Urbanisierung und die landwirtschaftliche Modernisierung voranzutreiben. Jährlich ziehen mehr als Zehn Millionen Menschen vom Land in die Städte und Großgemeinden. Zudem kommt es zu einer Aufwertung der Konsumstruktur und einer beschleunigte Umstrukturierung der Industrien. All dies wird bei der Binnennachfrage ein gewaltiges Potenzial freisetzen.
Die Reform wird dem Land weiterhin großen Gewinn bringen. Die rasante Wirtschaftsentwicklung Chinas in den vergangenen 30 Jahren ist auf Reform zurückzuführen. Die nachhaltige, gesunde Weiterentwicklung muss sich ebenfalls auf Reformen stützen. Zurzeit befindet sich diese Politik in einer schwierigen, aber entscheidenden Phase, in der wir die Reform in den wichtigen Bereichen wie Verwaltung, Finanzen, Steuern und Preise vertiefen und intensivieren. Die Umstrukturierung der Wirtschaft, die Verbesserung des Lebensstandards der Bevölkerung, soziale Gerechtigkeit und die Entfaltung des Marktpotenzials können nur durch Reformen erreicht werden.
Auch die Öffnung ist eine Reform. Dass die Öffnung Reform und Entwicklung beflügeln kann, ist unsere zentrale Erfahrung. China verfolgt eine Öffnungsstrategie, die gegenseitige Vorteile und Gewinne zum Ziel hat. Eine neue Runde der Öffnung Chinas ist in vollem Gange, sie wird breite Sektoren tief greifend erfassen. Wir werden insbesondere die Öffnung im Bereich des Dienstleistungshandels erweitern, um Chinas Dienstleistungssektor zu fördern. In den nächsten fünf Jahren wird China Güter im Wert von ungefähr zehn Billionen Dollar importieren und 500 Milliarden Dollar im Ausland investieren. Die nachhaltige Entwicklung der Wirtschaft und die Vertiefung der Reformen und unserer Öffnung werden den chinesischen Markt kontinuierlich ausbauen; das bringt Deutschland Vorteile bei der Erschließung des asiatischen Marktes und bietet den deutschen Unternehmen und der deutschen Wirtschaft insgesamt die Chance, weiter zu prosperieren.
Was kann mann bei Unstimmigkeiten zwischen China und Deutschland tun?
Mit einem Satz: Das Gemeinsame suchen und dabei Unterschiede bestehen lassen. Wir Chinesen sagen oft, dass es unter den zehn Fingern längere und kürzere gibt. In der vielfältigen Welt von heute sind unterschiedliche Wahrnehmungen zwischen Staaten ganz normal. Entscheidend ist, wie man damit umgeht. Es ist davon abzuraten, bei Meinungsverschiedenheiten andere am eigenen Maßstab zu messen oder gar anderen die eigene Meinung aufzuzwingen. Vielmehr gilt es, sich in die Lage der anderen zu versetzen und von sich selbst auf andere zu schließen. Ein aktiver Dialog kann zum besseren Verständnis beitragen, und das Bemühen, sich in den anderen hineinzudenken, kann das Vertrauen ineinander vertiefen. China und Deutschland haben fleißige und weise Völker, in ihnen sind innovative und tüchtige Unternehmen tätig, beide Länder sind aufgeschlossen und pragmatisch. Unterschiedliche Auffassungen sollen unsere Freundschaft nicht beeinträchtigen. Gemeinsam können beide Länder mehr gewinnen.
Die Kooperation zwischen Unternehmen beider Länder schwächt unsere jeweiligen Stärken nicht. Wettbewerb ist keine schlechte Sache. Mit der ständigen Entwicklung der chinesischen Wirtschaft steigt auch die Wettbewerbsfähigkeit chinesischer Unternehmen. Aus enger Zusammenarbeit und gesundem Wettbewerb unserer Unternehmen ergibt sich keinesfalls ein Nullsummenspiel in dem Sinne, dass »der eine gewinnt, der andere verliert«. Vielmehr kann der Kuchen des Marktes auf diese Weise größer werden, den Unternehmen höheren Profit bringen und mehr Arbeitsplätze schaffen. Darüber hinaus können Unternehmen beider Länder die Märkte in Drittländern gemeinsam erschließen. Dafür wird China das System zum Schutz geistigen Eigentums verbessern, damit der Wettbewerb zwischen den Unternehmen fairer wird.
Was können China und Deutschland für die Welt leisten?
Ein europäisches Deutschland und ein asiatisches China gehen Hand in Hand voran. Davon profitieren nicht nur die Bevölkerungen beider Länder, sondern davon profitiert auch der Rest der Welt. Das Erstarken eines Landes bedeutet nicht das Streben nach Vormachtstellung. Zwar ist Chinas Wirtschaftsleistung heute größer. Wir bleiben jedoch immer noch ein Entwicklungsland. Kennt man China gut, liegt dies auf der Hand. Auch wenn China in der Zukunft wirklich stark wird, werden wir uns keinesfalls über Schwächere stellen, da wir selbst im 19. und 20. Jahrhundert sehr unter Kriegswirren gelitten haben und daher eine Wiederholung dieser Tragödie in anderen Ländern nicht sehen wollen. Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem anderen zu: Die Essenz des chinesischen Humanismus ist in diesem Aphorismus enthalten, ein Grundsatz, zu dem wir uns konsequent bekennen.
China hat bei der Modernisierung noch eine lange Strecke vor sich. Kein Weg führt an der Versorgung mit dem Lebensnotwendigen vorbei, wenn man ein großes Land mit 1,3 Milliarden Menschen gut verwalten will. Das bedeutet, dass die Grundbedürfnisse der Bevölkerung große Aufmerksamkeit verdienen. Die Chinesen sehnen sich nach besserer Bildung, einem sicheren Arbeitsplatz, vollständigerer Sozialabsicherung, bequemeren Wohnverhältnissen und einem besseren Kulturleben. Sie hoffen auf eine stabile Gesellschaft und Entwicklung des Staates. Wer keinen Haushalt führt, hat eben keine Ahnung davon, wie schwer das ist. In der Tat erfordert allein die Lösung der alltäglichen Probleme von uns langjährigen großen Einsatz und viel Herzblut. Nicht nur aus außenpolitischen Gründen halten wir am friedlichen Entwicklungsweg fest, sondern mehr noch aus eigenen Bedürfnissen.
In der heutigen Welt schreiten politische Multipolarisierung und wirtschaftliche Globalisierung weiter voran. Als entschlossener Unterstützer der europäischen Integration ist China überzeugt, dass Europa eine bedeutende Kraft zur Wahrung von Frieden und Stabilität in der Welt ist, dass Europa einen wichtigen Pol der Welt darstellt. Wir freuen uns, wenn die EU ihr Schuldenproblem erfolgreich angeht, wenn der Euro stabil bleibt, und wir würdigen den deutschen Beitrag zur Wiederbelebung der europäischen Wirtschaft. Geht es Deutschland und der EU gut, dann geht es auch China gut. Nach wie vor bestehen Unsicherheiten für die Weltwirtschaft, erfährt der Protektionismus ein Comeback und zeichnen sich neue Risiken im internationalen Währungs- und Finanzsystem ab. In jedem Land sind Verantwortung und Weisheit gefragt, damit sich alle, weiter in einem Boot sitzend, den Herausforderungen stellen. Als verantwortungsbewusste Mächte sollen China und Deutschland den freien Handel klar unterstützen, den Protektionismus bekämpfen und die internationale Zusammenarbeit intensivieren. Das liegt im beiderseitigen Interesse und trägt zur Wahrung von Frieden, Stabilität und Entwicklung in der Welt bei.
Lassen Sie uns alles dafür tun, dass China und Deutschland Hand in Hand großen Schrittes vorwärtsgehen!