Der heutige Tag steht ganz im Zeichen der lokalen Kultur. Die erste Begegnung findet am Frühstückstisch statt – vor unseren Augen wird aus Tsampa, Zucker und Buttertee im Handumdrehen ein fester Teig geknetet, dessen Geschmack leicht an Stockbrot erinnert. Überhaupt spielt Tsampa, die geröstete Hirse, in der tibetischen Küche eine große Rolle. Weitere Zubereitungsformen, in deren Genuss wir ebenfalls kommen, sind ein Brei, für den das Mehl in gesüßten Buttertee eingerührt wird, sowie eine kalte Nudelspeise mit Chilisauce. Unser eigentlicher Tag beginnt jedoch mit dem Besuch eines lokalen Kulturfestivals. Auf einer Freiluftbühne bieten mehrere Dutzend Tänzer und Musiker ihr Können dar, darunter etwa das Spiel einer sechssaitigen Zither. Die Besonderheit dieses Instruments besteht darin, dass die Saiten sowohl von unten nach oben als auch von oben nach unten angespielt werden können. Der Klang unterscheidet sich dabei deutlich, und ein geübter Hörer stellt mit Leichtigkeit fest, in welcher Richtung die Saiten angeschlagen wurden. Während immer mehr Zuschauer herbeiströmen, fällt unser Blick auf einen einzelnen Mann, der ein Schaf an der Leine spazieren führt. Wie sich herausstellt, steckt mehr dahinter als ein etwas eigener Geschmack für Haustiere. Vielmehr handelt es sich um einen tibetischen Brauch, nach dem in jeder Schafherde zumindest ein Tier vom üblichen Schicksal des Schlachtens verschont werden sollte. Die Hirten versuchen auf diese Weise, ihre schlechten Taten insbesondere im Umgang mit den übrigen Tieren auszugleichen. Indem sie eines der Schafe bis zu seinem natürlichen Tod hegen und pflegen, ist es ihnen möglich, negatives Karma abzubauen und eine gute Tat zu vollbringen. Die Wahl erfolgt dabei folgendermaßen: Der Hirte begibt sich in die Mitte der Schafherde, schließt seine Augen und wirft ein leichtes Taschentuch von sich. Jenes Tier, auf dessen Kopf das Tuch landet, sieht fortan einem glücklichen Leben als umpflegtes Schaf mit Sonderstatus entgegen.
Am Nachmittag erwartet uns dann ein besonderes Erlebnis – ein Besuch im Kloster Tashilunpo, dem Sitz des Panchen Lama. Wir haben das große Glück, von einem ranghohen Mönch empfangen zu werden, der zugleich als Vizeleiter der Klosterverwaltung tätig ist. Nachdem er unsere Fragen beantwortet hat, stellt er uns einen seiner Untergebenen zur Seite. Dieser begleitet uns für die nächsten drei Stunden durch die gesamte Anlage und kann uns die Einzelheiten des monastischen Lebens aus erster Hand erläutern. Das Kloster beherbergt momentan etwas mehr als 800 Mönche und vibriert förmlich vor religiöser Energie. Trotz der großen Zahl der Besucher ist der gesamte Ort von einer dichten Atmosphäre erfüllt, jeder Stein und jede Statue scheinen eine eigene Geschichte erzählen zu wollen. Zudem sind die verwinkelten Klostergänge und –gassen mit ihren weißen, roten und gelben Wänden von einzigartiger Schönheit. Als wir unseren Rundgang schließlich beenden, sind ausnahmslos alle Reiseteilnehmer von Begeisterung und Nachdenklichkeit zugleich erfüllt. Mit dieser euphorischen Stimmung begeben wir uns erneut zur Ruhe und hoffen auf einen weiteren Tag voller neuer Erlebnisse und Entdeckungen.