Der zweite Tag unseres Aufenthaltes in Lhasa bringt zwar zunächst kein besseres Wetter, wohl aber eine deutliche Verbesserung meines Befindens. Immer wieder wurde man nachts von den eigenen Atemzügen geweckt, mit denen der Körper den geringeren Sauerstoffgehalt der Luft auszugleichen versucht. Doch nun sind Kopfschmerzen und Schwindel zu meiner großen Freude vollständig verschwunden, und ich kann mich langsam, aber bestimmt bewegen. Während unser Gepäck für die Abfahrt vorbereitet wird, ist daher ein erster kurzer Ausflug in der Umgebung unseres Hotels möglich. Dabei wird die Lage Lhasas in einem Talkessel deutlich: In allen Himmelsrichtungen überragen kleinere und größere Gipfel die zumeist flachen Gebäude. Wie sich bald herausstellt, ist nicht allen Teilnehmern der Reise dasselbe Glück zuteil geworden, mehrere Mitreisende mussten auf das Angebot von Sauerstoffflaschen zurückgreifen oder gar ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen.
Der zentrale Punkt unseres Tagesprogramms ist der Besuch des Potala-Palastes. Der Bau dieser Anlage geht auf das Jahr 637 zurück und wurde von König Songtsen Gampo angestoßen. Schließlich, mit der Übernahme der politischen wie der religiösen Macht durch den fünften Dalai Lama Lobsang Gyatso im 17. Jahrhundert, erhielt der Potala seine heutige Form und die Zweiteilung in den Roten und Weißen Palast. Letzterer diente als Beratungsort für politische Angelegenheiten, während der Weiße Palast allen religiösen Belangen vorbehalten war. Doch all dieses Faktenwissen rückt schnell in den Hintergrund, sobald man das Innere des Palastes betreten hat. Die gedämpfte Atmosphäre der dunklen Räumlichkeiten, die feinen Holzschnitzereien sowie die schiere Masse der religiösen Darstellungen und Wandbilder hinterlassen beim Betrachter einen tiefen Eindruck. Wie wir bei einer kurzfristig anberaumten Pressekonferenz mit dem Leiter der Palastverwaltung erfahren, ist die tatsächliche Zahl der hier aufbewahrten historischen Objekte bis heute nicht geklärt. Vorsichtigen Schätzungen zufolge soll es sich aber um mehrere 10.000 Gegenstände handeln.
In seiner Geschichte beherbergte der Potala zahlreiche Lamas, die den monumentalen Bau jeweils auf ihre Weise prägten. Am fünten Dalai Lama aber lässt sich keines dieser Oberhäupter messen. Diese Tatsache schlägt sich auch in der Größe und Menge der Statuen nieder. Besonders eindrucksvoll macht dies eine Statuengruppe geltend, in welcher der fünfte Dalai Lama gemeinsam und auf einer Höhe mit dem Buddha Shakyamuni dargestellt ist. Als wir nach einem langen Rundgang wieder ins Freie treten, bietet sich uns eine großartige Aussicht über die gesamte Stadt und die sie umgebenden Berge. Dabei fällt unser Blick aber auch auf eine weitere herannahende Wolkenfront, die schon kurz darauf Hagel und heftigen Regen bringt. Bleibt zu hoffen, dass die Gewitter keinen weiteren Einfluss auf unsere morgige Weiterreise nach Shigatse haben werden, wo uns unter anderem die tibetische Festkultur beschäftigen soll.
Lucas Göpfert