Die Präfektur Nujiang ist für einen Deutschen auf einer Landkarte in etwa ähnlich schwer zu lokalisieren wie umgekehrt das Allgäu für einen Chinesen. Die meisten von Ihnen, liebe Leser, werden auf der Karte wohl erst dann fündig, wenn ich Ihnen verrate, dass in eben diesem Nujiang vor kurzem eine neue Unterart des Burmesischen Stumpfnasenaffens entdeckt wurde.
Na, hat es bei Ihnen schon klick gemacht? Falls nicht: Die Heimat dieser von den Wissenschaftlern zur Familie der „Rhinopithecus Strykeri" gezählten Primaten befindet sich in der gebirgigen Provinz Yunnan im äußersten Südwesten der Volksrepublik, eingebettet zwischen dem tibetischen Hochland und dem abgeschotteten Myanmar.
So spektakulär wie für die Wissenschaftler die Entdeckung dieser neuen Affenart gewesen sein muss, war für mich als Bürger der überschaubaren Schweiz allein schon die Anreise aus dem fernen Beijing. In den Worten der zahlenverliebten Chinesen heißt das: Zuerst drei Stunden Flug ins 2.300 Kilometer entfernte Kunming, danach eine siebenstündige Fahrt auf einer engen Pritsche in gefühlten drei Metern Höhe im Nachtzug nach Dali. Und als krönender Abschluss unmittelbar im Anschluss daran noch einmal fünf ermüdende Stunden in einem stark in die Jahre gekommenen Kleinbus, vorbei an einer spektakulären, nebelverhangenen Hügellandschaft, die gut und gerne irgendwo in Südostasien hätte sein können.
Liuku, die Endstation unserer anderthalbtägigen Reise und Hauptort der Präfektur, liegt am südlichen Ende der 300 Kilometer langen Nujiang-Schlucht, einer noch weitestgehend unberührten Naturlandschaft, die wegen ihrer unglaublichen Artenvielfalt und Urtümlichkeit gelegentlich auch als „Chinas letztes Paradies" bezeichnet wird. 60 Prozent aller in der Volksrepublik existierenden Pflanzenarten sollen in dieser einzigartigen Gebirgslandschaft noch vorkommen.
Leider ist von dieser eindrücklichen Flusslandschaft in Liuku selbst, wo das Gros der Baumhaus-Freiwilligen arbeitet, genauso wenig zu sehen wie vom „letzten Paradies". Wie an den meisten anderen Orten in China hat auch in der abgelegenen Kleinstadt die Moderne mit all ihren Nebenerscheinungen schon längstens Einzug gehalten. Eine der löblichen Ausnahmen bildet das Fehlen von McDonald's und Kentucky Fried Chicken (KFC).
Auf Fastfoodketten nach amerikanischem Vorbild müssen die Einheimischen, von denen viele nationalen Minderheiten angehören, aber trotzdem nicht verzichten. Dafür sorgt der mit viel Liebe fürs Detail gestaltete McConkey (MCK) im Stadtzentrum, dessen oberstes Gebot es ganz offensichtlich ist, das Beste der beiden weltbekannten US-Fastfoodgiganten McDonald's und KFC harmonisch miteinander zu verbinden...
Weitaus besser und überdies erst noch viel preiswerter speisen kann man aber in einem der unzähligen einfachen Familienrestaurants, die über die ganze Stadt verteilt sind. Einen Festschmaus für vier Personen inklusive Bier gibts hier bereits für umgerechnet sieben Euro. Neben der Nujianger Version der deutschen Kartoffelpuffer besonders empfehlenswert ist gebratenes Huhn mit frischer Minze.
Dass die Freuden über solche kulinarischen Köstlichkeiten in Liuku selten von langer Dauer sind, wurde dem Schweizer Gast gleich am ersten Abend eindrücklich bewusst: Der Stromschalter im Zimmer seines Mittelklassehotels blieb plötzlich unauffindbar, das Fenster ließ sich auch unter größter Kraftanwendung nicht mehr schließen, und das Toiletten-Papier ging genau im dümmsten Moment zur Neige...
Wie die chinesischen Hotelgäste ihren Allerwertesten mit einem kümmerlichen Papier-Röllchen wieder auf Hochglanz bringen, darauf hat der Autor dieses Texts nach drei Tagen in Liuku genauso wenig eine Antwort gefunden wie auf die Frage, was die Stumpfnasenaffen bei Regen tun, damit kein Wasser in ihre schräg nach oben gerichteten Nasenlöcher eindringt. Zumindest weiß er jetzt aber ganz genau, wo sich dieser abgelegene Flecken Erde befindet, und dass er seine „Lonely Planet"-Ausgabe aus dem Jahr 2009 dringend ersetzen sollte.
Simon Gisler