Gut vorbereitet, unvoreingenommen und offen für Neues – mit dieser Devise habe ich die fast 3.000 Kilometer lange Reise hinunter nach Nujiang mit meinem Kollegen Kong Jie in Angriff genommen.
Wie für die deutschen Freiwilligen von Baumhaus war die Reise nach Yunnan auch für mich in vielerlei Hinsicht ein Sprung ins kalte Wasser: Nie zuvor war ich in meinen vier Jahren bei CRI dienstlich mit einem Kollegen unterwegs. Und schon gar nicht mit einem direkten Nachfahren des legendären Konfuzius. Auch die Berichterstattung über ein Entwicklungsprojekt hatte bis dato noch nie auf meiner Agenda gestanden – erst recht nicht mit einer so großen Filmkamera und einem noch größeren Stativ. Die Konstellation für eine unvergessliche Reise war somit schon lange vor dem Abflug gegeben.
In Anbetracht dieser Vorzeichen verwundert es nicht weiter, dass für Kong Jie und mich bereits die heile Ankunft mit der schweren Kameraausrüstung im fernen Liuku ein kleiner Erfolg darstellte. Aber auch unsere vielen Erwartungen sollten nicht enttäuscht werden – auch wenn sich einige von ihnen in der Realität als weniger eindrücklich herausstellten als ursprünglich angenommen. So hinterließ bei mir wider Erwarten weder die eindrückliche Naturlandschaft noch die offenkundige Rückständigkeit von Nujiang den bleibendsten Eindruck. Am unvergesslichsten empfand ich vielmehr die jugendliche Frische der deutschen Freiwilligen.
In einer Gesellschaft wie der unsrigen, in der der Jugend oft totales Desinteresse und fehlende Einsatzbereitschaft nachgesagt wird – gerade auch in der Schweiz –, war es für mich mehr als nur erfrischend zu sehen, mit wie viel Leidenschaft und Engagement die Jugendlichen aus Deutschland bei der Sache waren. Nicht weniger beeindruckt hat mich, wie professionell sie sich für ihr Alter vor der Kamera präsentiert haben.
Dasselbe gilt für ihre Unvoreingenommenheit, die nirgendwo besser zum Ausdruck kam als beim spontanen Spielen mit den Kindern einer Schule etwas außerhalb von Liuku. Wie die chinesischen Kinder zusammen mit den deutschen Freiwilligen um die Wette gestrahlt haben, war für mich die beste Werbung für das Baumhaus-Projekt. Die Grenzen zwischen den Helfern und den Hilfsempfängern war für einmal wie weggewischt. Die Vertreter von zwei ansonsten doch so unterschiedlichen Kulturen schienen sich plötzlich über alle Alters- und Sprachgrenzen hinweg genauso blind zu verstehen wie alte Freunde.
Das frohe Miteinander zwischen den jugendlichen Entwicklungshelfern aus dem wohlhabenden Deutschland und den neugierigen Kids aus der tiefen chinesischen Provinz ließ mich einen Moment lang gar meine Hauptaufgabe, das Filmen, völlig vergessen. Meine Gedanken kreisten plötzlich um die Frage, wie unsere Welt heute wohl wäre, wenn die mächtigsten Polit- und Wirtschaftsführer auch so herzhaft und frei von jeglichen Vorurteilen, Hintergedanken und ideologischen Zwängen miteinander umgehen würden? Und wie unsere Welt aussehen würde, wenn dieses Beispiel aus Nujiang rund um den Erdball Schule machen würde?
Die Antworten auf diese beiden Fragen hab ich leider nicht mehr mitgekriegt. Denn genau in dem Moment, als vor meinem geistigen Auge der Antwortfilm abgespielt werden sollte, wurde ich von einigen technikbegeisterten Jungs, denen es das Stativ meiner Kamera offenbar ganz besonders angetan hatte, unsanft aus meiner philanthropischen Tagträumerei gerissen.
Simon Gisler