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Menschen auf Ostkurs – 10 Fragen an Hans Martin Galliker
  2012-06-27 21:30:38  cri
Leben und arbeiten in China: Erleben Sie die Volksrepublik und im Besonderen die chinesische Hauptstadt Beijing durch ihre ausländischen Bewohner. Heute haben wir zehn Fragen an Hans Martin Galliker, Haupt-Initiator der Agrachina Group, die kommerzielle Unternehmen und nicht-kommerzielle Organisationen für nachhaltige Landwirtschaft in China entwickelt und unterstützt. Aufgewachsen auf einem kleinen Bauernhof bei Luzern, wurde dem Schweizer Jungunternehmer das Interesse für Agrarwirtschaft praktisch in die Wiege gelegt. Nach Karriereausflügen in die IT- und Kommunikationsbranche versucht der 32-Jährige heute in China mit diversen Projekten Nachhaltigkeit zu promoten. Eines dieser Projekte ist beispielsweise das Öko-Fashion-Label NEEMIC. Galliker lebt seit 2010 dauerhaft in der Volksrepublik.

Wo kommen Sie ursprünglich her und wie und wann sind Sie auf China gekommen?

Bis ich 22 Jahre alt war, hatte ich eigentlich gar keine Ahnung von China. Ich hatte nicht einmal Chinesisch gegessen. Es war für mich so fremd, dass ich nicht darüber nachgedacht habe. Dann war ich zwei Jahre lang mit einer Chinesin zusammen, die in der Schweiz studierte und die hat mich mit nach China genommen, um ihre Eltern kennenzulernen. Das war eine sehr interessante Reise, zu dem Zeitpunkt hatte ich ja kaum Ahnung von dem Land. Sie ist im Beijinger Vorort Tongzhou aufgewachsen und das war für mich wirklich Culture Clash: Vom heimeligen Luzern direkt nach China zu ihren Eltern und Verwandten, und das für mehrere Wochen. Das war supertoll, aber im Nachhinein betrachtet, bin ich da sicher in viele Fettnäpfchen getreten. Die Beziehung war zwar ein halbes Jahr später zu Ende (lacht), mein Interesse an dem Land hat sich dafür immer mehr erhärtet. Ich wollte einfach früher oder später nach China.

China, das Reich der Mitte: Was hat das damals für Sie bedeutet, bevor Sie hier ankamen?

Meine Idee von China bestand für mich damals aus platten Stereotypen: Gelbe Gesichter, scharfes Essen, usw. – also wirklich sehr undifferenziert. Erst als ich in das Land kam, habe ich mich wirklich damit beschäftigt, also mit der Historie, der Kultur. Da kamen zum ersten Mal Fragen auf wie: Was ist denn das? Warum ist das so anders? Wie kann ich mich integrieren? Das war wirklich ein fließender Prozess.

Erster Tag im neuen Land, können Sie sich noch an Ihre ersten Eindrücke erinnern? Wie war das?

Meine damalige Freundin hat mich auf Schritt und Tritt begleitet. Für mich wurde also umfassend gesorgt, da konnte nicht so viel schief gehen. Ich fand es sehr speziell, dieses Land zu sehen, das 2004 noch einen ganz anderen Entwicklungsstand aufwies als Zentraleuropa. Mir ist zum ersten Mal klar geworden, dass die Chinesen gar nicht alle gleich aussehen. Es war einfach Exotik pur!

Was genau machen Sie hier?

Ich habe einen Background im landwirtschaftlichen Bereich und in der IT und wollte diese beiden Aspekte als Lebensgrundlage und Inspirationsquelle vereinen, um für mich selbst und andere etwas aufzubauen. In der Schweiz ist das eher schwierig: Die Schweiz ist gebaut, da ist kein großes Interesse an Wandel und Innovation. Hier in China gibt es dieses Interesse und die Offenheit für Veränderung. Mit der Zeit habe ich verschiedene Leute kennengelernt, die jeweils in der Landwirtschaft und der IT etwas tun wollten.

Das Netzwerk hat sich dann so gut entwickelt, dass konkrete Projekte entstanden. 2008 fing ich nach acht Jahren Abstinenz vom landwirtschaftlichen Betrieb an, mich wieder mehr für nachhaltige Aspekte wie die Bio-Landwirtschaft, Slow Food und Rooftop Farming zu interessieren. 2009 habe ich dann mit Freunden die Projektgruppe Agrachina.com gegründet, mit dem Ziel chinesische Jungunternehmer zu finden, um mit ihnen in diesen Bereichen etwas aufzubauen und, um sie zu unterstützen, sei es mit IT, Business Administration, Social Media Netzwerken oder Kapital.

Um die landwirtschaftlichen Gegebenheiten zu lernen, haben wir uns erstmal sieben Wochen lang auf einen 14.000 Kilometer langen Roadtrip durch 16 Provinzen begeben und u.a. landwirtschaftliche Schulen, Märkte und Traktor-Werkstätten besichtigt.

Langfristig ist und bleibt mein Hauptprojekt Agrachina.com. Inzwischen sind daraus fünf Tochterprojekte entstanden. Am meisten bin ich derzeit mit dem Mode-Unternehmen NEEMIC für die mode- und ökobewusste Frau ab 25 beschäftigt. Wir versuchen, wo es geht, Bio-Stoffe einzusetzen, grundsätzlich gilt aber immer: Design first! Kleider sollen nicht wie Öko-Kleider aussehen, das ist unser Konzept. Die Stoffe in China zu besorgen, ist zurzeit leider noch fast unmöglich. Der hiesige Markt ist einfach zu klein und unprofessionell. Momentan befinden wir uns noch im Aufbau. Wir haben zwar schon drei Kollektionen, überlegen aber immer noch, wie wir das auch in Masse und genügend Qualität herstellen können. Der Online-Shop steht aber kurz vor der Eröffnung.

Wie unterscheidet sich ein ganz normaler Arbeitstag in China von einem Arbeitstag in der Schweiz?

Ich finde, der ist eigentlich sehr ähnlich. Es kommt auf die Altersklasse an: Die ältere Generation der Chinesen geht tendenziell früh zu Bett und steht früh auf. Die neue Mittelklasse nimmt es noch recht gemütlich und geht etwa gegen neun oder halb zehn ins Büro. In der Schweiz würde das als spät gelten.

Wir richten uns den Tag individuell nach den jeweiligen Bedürfnissen ein. Wenn zum Beispiel am Abend eine Vernissage etwas länger geht, stehen wir am nächsten Morgen eben später auf. Andere chinesische Jungunternehmer halten das ganz ähnlich.

Im Bereich der Organisation gibt es schon Probleme. Die Arbeitsmethodik ist hier anders, und ich weiß immer noch nicht genau wie. Aber die Chinesen bekommen es dann doch immer hin. Schwierig ist die Kommunikation. Wie kommt man auf denselben Nenner, tauscht sich über das Erreichte aus? Mit E-Mails funktioniert das hier irgendwie gar nicht. Die Chinesen kommunizieren eher über Instant Messenger Services wie QQ oder integrierte Netzwerke wie Kaixin. Am besten funktioniert meiner Meinung nach regelmäßiges Telefonieren.

Was ist Ihrer Meinung nach „typisch" für Beijing beziehungsweise „typisch" chinesisch?

Ganz toll sind diese Pyjamas, die einem morgens und abends auf den Straßen, insbesondere in den klassischen Hutongs, begegnen. Ich finde die so cool, dass ich mir eigentlich selbst so einen Pyjama kaufen möchte. Bis jetzt hab ich mich noch nicht dazu durchgerungen (lacht).

Welche Eigenschaft der Chinesen, welche Gewohnheit würden Sie gern in Ihrer Heimat übernehmen?

Als Schweizer oder auch als Deutscher will man hier immer alles so perfekt machen, wie man es zu Hause gelernt hat. In China geht das manchmal ganz anders, nicht so konzeptionell und ins Detail ausgearbeitet. Aber es funktioniert auch und zwar meistens schneller und mit weniger Aufwand. Ich versuche das für mich zu adaptieren, weil es einerseits kompatibler ist und man andererseits eben auch damit gute Resultate hinbekommt. Man kann es ja im zweiten Schritt immer noch perfekter machen. Diese Eigenschaft, auch einmal mit 80 Prozent zufrieden zu sein, würde ich gerne in die Schweiz importieren.

Und womit kommen Sie überhaupt nicht zurecht?

(Nach längerem Überlegen) Es gibt natürlich ein paar Dinge, die ich nicht so toll finde (lacht). Vorneweg möchte ich aber sagen, dass mir die Entwicklung in China grundsätzlich sehr gut gefällt und, dass sich das nicht immer im internationalen Renommee widerspiegelt. Ich finde es schade, dass die vielen Bemühungen für Nachhaltigkeit, für soziale Ausgeglichenheit international nicht wahrgenommen werden. Das liegt zum Teil an der Medienlogik, an der Wahrnehmung der westlichen Konsumenten, aber auch an suboptimaler chinesischer PR. Die verkaufen sich einfach nicht gut, da gibt es noch viel Potential. China hätte zum Teil ein wenig mehr positives Feedback von der internationalen Gemeinschaft verdient, was ja auch wiederum ein Antrieb wäre, um an gewissen Problemen weiter zu arbeiten.

Was mich zu Beginn im Alltag wirklich gestört hat, waren eher kleine Sachen, wie das Spucken auf den Boden oder gar Teppich, das Drängeln in der U-Bahn zur Rush Hour, wo immer alle zuerst eingestiegen sein müssen, bevor man aussteigen kann. Heute lache ich darüber. Seit Olympia 2008 und den öffentlichen Benimm-Diskursen hat sich die Situation auch verbessert. Richtig nerven tut mich nichts mehr. Ich finde, man lebt gut in China.

Auf welche Weise hat Sie das Leben hier in dieser Stadt, in China verändert, beeinflusst, was bedeutet China heute für Sie?

Aus der statischen Schweiz kommend, eröffnet China mit seiner hohen Dynamik und dem Veränderungswillen einem Jungunternehmer natürlich Welten. Sicher gibt es Einschränkungen, beispielsweise aufgrund fehlender Mittel und relativer Unbekanntheit als „kleiner Fisch". Aber das Potential ist da. Ich habe viel mit jungen Leuten zu tun, und die haben einen unglaublichen Willen, etwas aus ihrem Leben zu machen. Dieser Wille und diese Dynamik sind ansteckend, da kriegt man kaum genug davon.

Um im Alltag zurecht zu kommen, bin ich gelassener geworden und nicht mehr so detailfixiert. Mit der Zeit und der zunehmenden Bildung in chinesischer Kultur und Geschichte, sowohl Vergangenheit als auch Gegenwart, kommt das Verständnis. Die aufkommenden Fragen und Ableitungen für das eigene Leben machen einen nachdenklicher und das ist auch gut so. Mir ist bewusst geworden, dass man in einer fremden Kultur reflektieren muss, und, dass ich noch viel zu lernen habe.

Und, wie lange wollen Sie bleiben? Schon Rückflugticket gebucht?

Wenn die Chinesen einen Fünf-Jahres-Plan haben, dachte ich, kann das nicht so schlecht sein. Also habe ich mir einen Zehn-Jahres-Plan gemacht (lacht). Nein, ganz im Ernst, wenn ich mit meinen Projekten Erfolg habe und andere mit uns nachziehen und zusammen etwas aufbauen können, brauchen wir sicher zehn Jahre. Nach diesen zehn Jahren ist die Idee, das Netzwerk, das Kapital und Know-how nach Afrika mitzunehmen und dort im großen Stil Landwirtschaftsprojekte mitzugründen bzw. zu forcieren. Die Voraussetzungen, um wirklich etwas in Afrika erreichen zu können, haben wir jetzt noch nicht, aber vielleicht 2020.

Wie sich das alles mit meiner persönlichen Lebensplanung, also Familie usw., vereinen lässt, weiß ich noch nicht. Aber ich kann mir vorstellen, dass ich in der Landwirtschaft bzw. Permakultur ein reiches Leben finden kann, reich im kulturellen und naturbezogenen Sinne.

Interessante Links: www.agrachina.com, www.ecoscan.info, www.neemic.cn

Interview, Protokoll und Foto: Marie Bollrich

Forum Meinungen
• mengyingbo schrieb "Leben in Changshu"
seit etwas über einer Woche ist nun Changshu 常熟 in der Provinz Jiangsu 江苏 meine neue Heimat - zumindest erstmal für rund 2 Jahre.Changshu (übersetzt etwa: Stadt der langen Ernte) liegt ungefähr 100 km westlich von Shanghai und hat rund 2 Millionen Einwohner, ist also nur eine mittelgroße Stadt.Es gibt hier einen ca. 200m hohen Berg, den Yushan 虞山 und einen See, den Shanghu 尚湖...
• Ralf63 schrieb "Korea"
Eine schöne Analyse ist das, die Volker20 uns hier vorgestellt hat. Irgendwie habe ich nicht genügend Kenntnisse der Details, um da noch mehr zum Thema beitragen zu können. Hier aber noch einige Punkte, welche mir wichtig erscheinen:Ein riesiges Problem ist die Stationierung von Soldaten der USA-Armee in Südkorea...
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