Ma Han liebt das Zeichnen schon von klein auf. Zudem interessiert er sich für die Malerei und die Kalligraphie. Er liebt es, das Alltagsleben zu beobachten und seine Gedanken darüber später auf Papier zu bringen. Seine Vorliebe für die Kunst hat er von seinem Vater Ma Jigang geerbt:
„Mein Leben ist schon von klein auf eng mit der Bildkunst verbunden. Mein Vater hat mein Interesse an der Kunst geweckt. Im Süden von Urumqi gab es früher oft Kunstausstellungen. Mein Vater nahm mich mehrmals zu diesen Ausstellungen mit. Wenn wir zusammen unterwegs waren, zeichneten wir immer die Landschaften, die wir sahen. Manchmal las er mir auch aus Kunstbüchern vor. Mir gefiel die Bildkunst von klein auf. All meine Bekannten sagten mir voraus, dass ich mich einst mit der Bildkunst beschäftigen würde."
Als Ma Han zehn Jahre alt war, begab sich sein Vater auf eine Geschäftsreise nach Gansu. Als er von seiner Reise zurückkehrte, umarmte er seinen Sohn und sagte zu ihm in feierlichem Ton:
„Dein Papa hat auf seiner Dienstreise eine neuartige Maltechnik entdeckt. Die Einheimischen nennen diese Maltechnik „Niehua". Sie fasziniert alt und jung gleichermassen. Dein Papa hat die Malabläufe bereits auswendig gelernt. Die Maltechnik ist äußerst spannend. Sobald dein Papa Zeit hat, wird er sie dir beibringen."
Die Volkskunst „Niehua" ist in den ländlichen Gebieten von Gansu weit verbreitet. Ihre Abläufe sind sehr einfach. Was es braucht, sind zwei handgroße Blätter Papier. Auf ein Blatt wird Tinte aufgetragen. Danach wird das zweite Blatt darauf gelegt. Jetzt folgt der letzte und entscheidende Schritt. Durch die gezielte Druckausübung mit den Fingern wird „gemalt". Das heißt, die Tinte fliesst nun auf dem Deckblatt dahin, wo sie der Künstler haben will. Mit seinen Fingern übt der Künstler solange Druck auf die aufeinander gelegten Blätter aus, bis der gewünschte Effekt erzielt ist.
Ganz so einfach wie es sich anhört, ist die „Niehua" dann aber doch nicht. Wer diese Maltechnik erlernen will, der braucht vor allem eines: Übung! Das musste auch der kleine Ma Han schmerzlich erfahren. Nachdem er den Anweisungen seines Vaters sorgfältig gelauscht und den Ablauf bis ins Detail studiert hatte, nahm er ein Blatt Papier und beschmierte es mit Tinte. Danach legte er das zweite Blatt darauf und begann wie von seinem Vater geheißen, ganz zaghaft mit den Fingern zu drücken. Groß jedoch war seine Enttäuschung, als er die zwei Blätter Papier wieder auseinander faltete, um sein „Kunstwerk" zu betrachten:
„Was ist denn jetzt los? Was ist das? Es ist total schwarz! Wo sind denn die Landschaften und Menschen, von denen mir Papa erzählt hat?"
So leicht aber gab Ma Han nicht auf. Er analysierte sein Vorgehen noch einmal Schritt für Schritt. Allmählich leuchtete ihm dann ein, wo der Fehler lag:
„Man darf die Tinte nicht überall auf dem Papier auftragen. Man muss sie ganz gezielt auftragen, um den gewünschten Effekt von dunkel und hell zu erzielen. Sobald man die beiden Blätter aufeinander gelegt hat, muss man analog zum Entwurf unterschiedlich stark drücken."
Die nervenaufreibende Lernphase hat Ma Han freilich schon lange hinter sich gelassen. Inzwischen sitzt bei ihm jeder Ablauf:
„Zuerst schalte ich jeweils die Lampe ein. Dann beginne ich mit der Vorbereitungsarbeit. Als erstes überlege ich mir immer einen Entwurf. Gemäß diesem Entwurf male ich dann das Bild. Kunstmüde bin ich noch lange nicht. Mein ganzes Zimmer ist schon voll von Druckzeichnungen."
Jedes Werk von Ma Han ist anders. So etwas wie ein Standardwerk kennt er nicht. Mit 14 Jahren gelang ihm sein erstes erfolgreiches „Niehua". Es zeigt eine Familie an einem Felsvorsprung:
„Als ich mein erstes erfolgreiches Werk sah, wurde meine Leidenschaft erst so richtig geweckt. Ich konnte meine nächsten Erfolge kaum abwarten. Meine Werke gelingen mir jedoch nicht immer. Aus den Schlechten ziehe ich meine Lehren und werfe sie danach weg. Ich behalte nur meine besten Werke, also diejenigen, mit denen ich am meisten zufrieden bin."
Die Unberechenbarkeit ist ein Element, das Ma Han an der „Niehua" ganz besonders irritiert. Oft sieht das Ergebnis völlig anders aus als der Entwurf – was sowohl positiv als auch negativ sein kann:
„Bevor man mit den Fingern zu drücken beginnt, muss man eine Szene entwerfen. Der Entwurf ist aber nie fein und genau. Bevor man die Tinte verschmiert, muss man sich überlegen, wo die Landschaften und die Menschen hin sollen. Oft fällt das Ergebnis nicht so aus wie man sich das vorgestellt hat. Das ist die Zufälligkeit der „Niehua"."
Ma Han befasst sich schon seit über zehn Jahren mit der „Niehua"-Kunst. Er hat schon über hundert Kilo Papier verbraucht und einige tausende Fehlschläge hinnehmen müssen. Ans Aufgeben hat er freilich nie gedacht. Sein Stil hat sich stetig weiterentwickelt. Während er anfänglich nur mit einer Farbe malte, gehören heute mehrere Farben zu seinem Standardrepertoire. Zudem benutzt Ma Han inzwischen nicht mehr nur herkömmliches Papier, sondern er bemalt auch Grußkarten und Lesezeichen.
„Meines Erachtens sollte sich jeder einmal an dieser Volkskunst versuchen. Jeder Mensch ist in der Lage, ein Kunstwerk zu schaffen, und jeder Mensch kann Künstler werden. Die „Niehua" ist nicht einfach nur eine Kunstform, sie ist vielmehr so etwas wie eine Charakter- und Lebensschule. Sie lehrt uns, beharrlich zu sein und uns von Misserfolgen nicht unterkriegen zu lassen. Durch sie erkennt man erst die Schönheit des Lebens."
Übersetzt von Zheng An