Taijiquan oder chinesisches Schattenboxen, verkürzt auch als Taiji bezeichnet, ist eine im alten Kaiserreich China entwickelte Kampfkunst. Sie wird mittlerweile von mehreren Millionen Menschen weltweit praktiziert und zählt damit zu den am häufigsten ausgeübten Kampfkünsten. In China ist Taijiquan ein Volkssport. In den Morgenstunden sieht man in den städtischen Parkanlagen tausende von Menschen beim Üben der langsamen, fließenden Bewegungen.
Auch die Bewegungen des Taiji beruhen auf dem Yin-Yang- Prinzip, da sie sich ständig ändern. Alle Bewegungen, seien sie hart oder weich, schnell oder langsam, sanft oder kraftvoll, impulsiv oder ruhig, sich öffnend oder sich schließend, bedingen einander und entstehen als Folge ihrer entsprechenden Polaritäten. Die Bewegungen gehen fließend ineinander über. In der Ruhe liegt bereits die Bewegung, und in der Bewegung die Ruhe. So wechseln sie sich einander nicht nur unentwegt ab, sondern unterstützen sich gegenseitig.
Chen Shangdang ist ein Taiji- Enthusiast. Er hat Taiji für zehn Jahre gelernt.
„Der Sinn von Taiji ist nicht die rohe Kraft, sondern ein besonders feines und graziles Bewegungstraining. Wichtig dabei ist, die Gedanken mit den Bewegungen und der Atmung zu verbinden. Das Innen und das Außen soll eine Einheit bilden. Das innere Qi muss von den Gedanken gelenkt werden und im Körper fließen. Bei Anfängern ist die Entspannung das Wichtigste. Alle Gelenke und Muskeln müssen sich entspannen und stets locker bleiben. Beim Öffnen und Schließen der Hände soll man das Qi fühlen können. Das ist das innere Qi, das von den Gedanken gelenkt wird. Die Bewegungen dürfen besonders bei Anfängern nicht schnell ausgeführt werden, je sanfter, desto besser. Das grundlegendste Prinzip ist das der Wechselwirkung polarer Naturkräfte wie Anspannung - Entspannung, Ruhe - Bewegung, Innen - Außen und so weiter."
Durch Taiji soll eine Muskelentspannung sowie eine bessere Beweglichkeit der Gelenke bewirkt werden. Nach Ansicht der Ausübenden des Taiji kommen die Bewegungen nicht durch Muskelimpulse, sondern durch die Lebensenergie - Qi - zustande, die in jedem menschlichen Körper durch bestimmte Leitungsbahnen, die so genannten Meridiane, fließt. Eng verbunden ist dies mit dem Prinzip der Gegensätze Yin und Yang und dessen Gleichgewicht. Bei Störungen der Lebensenergie kann es zu Krankheiten kommen. Diese Blockaden sollen durch das Ausüben von Taiji gelöst werden und die Harmonie im Organismus wiederhergestellt werden. Das Praktizieren von Taiji bewirkt ebenso eine Lösung von Verspannungen in der Muskulatur, eine Verbesserung der Haltung sowie der Körperwahrnehmung. Eine positive Wirkung von Taiji auf den Kreislauf und die Sauerstoffversorgung wird ebenfalls beschrieben.
Der 72-jährige Rentner Pei Shuli sagt,
"Jeden Abend nach dem Abendessen übe ich Taiji im Park. Taiji lässt mich nicht so müde werden, wie viele andere Sportarten. Taiji stimuliert meinen Bewegungsapparat, das Gewebe und die Organe. Mein Stoffwechsel kann dadurch verbessert werden. Probleme wie Schlaflosigkeit, Müdigkeit oder Rückenschmerzen sind dadurch beinahe beseitigt."
Aber Taiji fördert nicht nur die körperliche Gesundheit, sondern auch die geistige.
Chen Lu ist eine junge berufstätige Frau. Jeden Morgen organisiert ihre Firma für die Mitarbeiter Taijiquan als Morgengymnastik. Dazu sagt Chen,
"Taijiquan ist für mich eine körperliche und geistige Schulung, in der ich lerne, wie innere und äußere Konflikte entstehen und durch welches Verhalten wir sie lösen können. Nach Taiji- Übungen fühle ich mich entspannter und ruhiger. Alles läuft irgendwie geschmeidiger und harmonischer. Damit habe ich gute Laune für den Rest des Tages. Ich werde von den anderen nicht all zu viel fordern, sondern möchte mich selbst mehr einbringen."
Die Verbindung körperlicher und geistiger Aspekte macht Taijiquan auf eine besondere Weise für uns interessant und die Praxis für unseren Alltag sinnvoll. Denn nicht die Situation eines körperlichen Angriffs ist das, was wir tagtäglich fürchten oder bewältigen müssen. Aber wir haben viele andere ‚Kämpfe' zu bestehen, innere Kämpfe mit uns selbst oder Auseinandersetzungen und Konflikte mit unseren Mitmenschen.
Diese Konflikte entspannt, zielorientiert und gemeinschaftlich lösen zu lernen, oder besser: sie im Moment Ihres Entstehens zu neutralisieren, ist auch ein Teil der lebendigen Philosophie des Taijiquan.
So heißt es im Daodejing von Laozi:
Nichts in der Welt ist weicher und schwächer als Wasser
und doch gibt es nichts, das wie Wasser
Starres und Hartes bezwingt
unabänderlich strömt es nach seiner Art
dass Schwaches über Starkes siegt
Starres Geschmeidigem unterliegt
wer wüsste das nicht?
doch wer handelt danach?
Aus diesem Grund ist das Wasser ein Idealbild im Taiji. Die Kunst der Bewegung zeigt sich darin, dass der geübte Taiji- Kampfkünstler sich wie Wasser bewegt: weich, fließend, kraftvoll und scheinbar widerstandslos.
Text von Wang Yaqi
Gesprochen von Qiu Jing Lu Ming