Shuimo/Moutuo
„Sichuan ist wie eine von der Natur geschaffene Enzyklopädie", heißt es im offiziellen Touristenhandbuch der Provinz. Naturparadiese wie Jiuzhaigou, Huanglong, der Berg Emei oder auch das Wolong-Pandareservat sind weltbekannt. Mit der Förderung des Tourismus im autonomen Bezirk Aba, wo die Qiang-Nationalität beheimatet ist, will die Provinzregierung dieser bereits stattlichen Enzyklopädie nun ein weiteres Erfolgskapitel hinzufügen.
Die mit knapp 88 Millionen Einwohnern viertbevölkerungsreichste Provinz gehört zusammen mit Yunnan und dem Autonomen Gebiet Xinjiang auch zu den ethnisch am meisten durchmischten Teilen Chinas. In Sichuan leben die meisten Angehörigen der Yi-Nationalität und die zweitmeisten Tibeter. Ausschließlich hier anzutreffen sind die Qiang, ein vor langer Zeit aus Qinghai eingewandertes Volk von Nomaden und Bauern.
Die im Bezirk Aba unweit des Epizentrums beheimateten Qiang wurden vom Erdbeben im Mai 2008 besonders hart getroffen. Shuimo und Moutuo, zwei ihrer Dörfer, verschwanden innerhalb von Sekunden von der Landkarte. Weniger als drei Jahre später erstrahlen sie in noch nie dagewesenem Glanz. Aus der Not des Erdbebens hat die Regierung eine touristische Tugend gemacht.
Sichuan im Mini-Format
Das malerisch am Shouxi-Fluss gelegene Shuimo ist das Paradebeispiel für den erfolgreichen Wiederaufbau in Sichuan. Wobei Wiederaufbau nicht ganz zutreffend ist. Denn der 10.000-Seelenort 19 Kilometer vom Epizentrum Yingxiu entfernt, wurde mit einer gewaltigen Finanzspritze der Regierung nicht nur wiederaufgebaut, sondern gleichzeitig auch zu einer Art Mini-Sichuan erweitert. Das neue Shuimo mit seinen verschiedenen Architekturstilen soll langfristig zu einem internationalen Touristenmagnet werden und seinen Bewohnern auf diese Weise eine neue Lebensgrundlage ermöglichen.
Das neue Dorfbild bestimmen die für die Qiang charakteristischen gelben Holz- und Steinhäuser. Daneben finden sich aber auch viele tibetische Elemente wie Stupas, oder Pavillons, wie sie der China-Besucher aus Städten kennt, in denen vorwiegend Han-Chinesen leben. Das aus den Trümmern auferstandene Shuimo ist ein Freilichtmuseum, in dem lokale Spezialitäten probiert und traditionelles Kunsthandwerk gekauft werden kann. Im übertragenen Sinne ist es aber auch ein architektonisches Symbol für das nicht immer ganz friedliche Miteinander im ethnisch stark durchmischten Sichuan.
Make up-feindliche Qiang
70 Kilometer von Shuimo entfernt liegt Moutuo, was in der Sprache der Qiang soviel wie „Sonne" bedeutet. Nach drei Jahren mit wenig Licht ist die Hoffnung ins vom großen Beben total zerstörte Dorf zurückgekehrt. Auch hier setzt die Regierung voll auf die Karte Tourismus. Im Unterschied zu Shuimo wird in Moutuo jedoch ausschließlich die Kultur der Qiang gezeigt. Mit ihrer reichhaltigen Folklore wollen die tanz- und singbegeisterten Qiang ein neues Kapitel in ihrem dicken Geschichtsbuch aufschlagen. Entsprechend wird hier der Mühlstein noch vom Esel gezogen und die Schuhe von Hand gestickt.
Wenn die Rechnung der Regierung aufgeht und ausländische Besucher dereinst scharenweise ins Dorf strömen, dann steht hoffentlich schon bald in der online-Enzyklopädie Wikipedia die Warnung, dass die Qiang ihren Gästen bei der Verabschiedung zum Segen das Gesicht mit Farbe beschmieren.
Simon Gisler