„Auf einmal hörte ich ein heftiges Rauschen. (...) Einen Moment später verlor ich buchstäblich den Boden unter den Füßen – ich versuchte, einen Schritt zu setzen, wankte aber zur Seite und hielt nur mühsam das Gleichgewicht." Wie so oft ist es auch am 12. Mai 2008 heiß und schwül in Chengdu, dem Hauptort der Provinz Sichuan, im gebirgigen Westen Chinas. Der 21-jährige Julius Engel ist gerade unterwegs zur Waldorf-Schule in der Nähe der dritten Ringstraße, wo er seinen Zivildienst absolviert. „Erst dachte ich, mein Kreislauf würde die Hitze nicht mehr mitmachen. Meine Knie waren weich, ich versuchte, mich hinzusetzen." Dann beginnen auch schon die Häuser um den jungen Berliner herum zu wanken. Erst jetzt begreift Engel, dass die Erde bebt.
Dass er gerade Zeuge der größten Naturkatastrophe in China seit dem Erdbeben in Tangshan im Jahr 1976 wurde, weiß der junge Abiturient freilich noch nicht. Erst Tage später wird das ganze Ausmaß der Katastrophe langsam greifbar. Das Epizentrum des Bebens mit einer Stärke von 8,0 auf der Richterskala lag nur knapp hundert Kilometer von Chengdu entfernt. Nach offiziellen Angaben starben 87.000 Menschen, gegen 400.000 wurden verletzt. Über fünf Millionen verloren über Nacht ihr Zuhause.
Wie viele andere auch sucht Engel instinktiv auf einer breiten Straßenkreuzung Zuflucht vor herabfallenden Häuserteilen. „Die Straße rollte in Wellen auf mich zu, alles war in Bewegung. (...) Die Strommasten am Straßenrand wankten, die Leitungen zitterten. Überall kamen Menschen aus den Häusern heraus auf die Straße gelaufen", erinnert sich der Berliner.
Im Zentrum von Chengdu herrscht unmittelbar nach dem Beben Chaos und Ungewissheit. Aus Angst vor Nachbeben verbringen die Menschen die Nacht im Freien. Krankenhäuser werden geräumt und „die Patienten unter Planen auf den Bürgersteigen im Freien betreut", so Augenzeuge Engel. Auch am Tag danach trauen sich die Bewohner nicht in ihre Häuser zurück. Auf den Straßen liegen „heruntergefallene Kacheln, Putz und Bauschutt".
Knapp drei Jahre später geht es in Chengdu wie gewohnt entspannt zu und her. Der Verkehr fließt in verhältnismäßig geordneten Bahnen, Gehupe hört man kaum. Die Welthauptstadt der Pandas präsentiert sich auf der Fahrt vom Flughafen in die Innenstadt wie jede andere Millionenmetropole in China auch: am Stadtrand mehr oder minder trostlose Wohnsilos, in der Stadtmitte topmoderne Glaspaläste, deren Fassaden in der Nacht wie Juwelen glitzern. Dazwischen eine mehrspurige Schnellstraße, die beiderseits immer wieder von riesigen Baustellen gesäumt wird. Eine willkommene Abwechslung zu den vielen Rohbauten aus Beton und Stahl sind die großzügig angelegten Grünflächen und Bäume entlang der Straße.
Nichts erinnert auf den ersten Blick mehr an das verheerende Wenchuan-Erdbeben. Und weiche Knie wie Julius Engel am 12. Mai 2008 kriegen heute in Chengdu höchstens noch diejenigen, denen sich der Magen schon beim bloßen Gedanken an die berühmt-berüchtigte Schärfe der Sichuaner Küche umdreht.
Simon Gisler