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Gespräch mit Literaturwissenschaftler Prof. Lothar Ehrlich
  2010-09-13 09:35:58  cri
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Prof. Lothar Ehrlich ist seit 20 Jahren für die Weimarer Klassik Stiftung tätig. Auf Einladung Fremdsprachen-Universität Beijings (Beijing International Study University BISU) unterrichtet er für ein Jahr in China. Wie Prof. Ehrlich als Literaturwissenschaftler über China und das Hochschulleben denkt, erfahren Sie im folgenden Interview, geführt von CRI-Praktikantin Wei Jingying:

Wei: Herr Ehrlich, warum sind Sie nach China gekommen, obwohl Sie ja eigentlich schon in Rente sind?

Ehrlich: Ja, ich bin im Jahr 2008 65 Jahre alt geworden und bin daraufhin tatsächlich in Rente gegangen, wie man in Deutschland sagt. Danach habe ich jedoch das Angebot bekommen, an der Universität hier für ein Jahr zu lehren. Ich war früher schon in Korea und Japan, aber noch nie in China. Mich interessiert das Land, das Leben hier, die Modernisierung und auch die Reformen. Und ich wollte auch etwas für die Germanistik tun, deswegen bin ich jetzt für ein Jahr hier.

Wei: Worin besteht im Wesentlichen Ihre Arbeit?

Ehrlich: Es geht in erster Linie um Germanistik und deutsche Literatur, gelegentlich auch deutsche Sprache und deutsche Kultur. Ich interessiere mich seit Beginn der 90er Jahre dafür, ins Ausland zu reisen und dort die deutsche Kultur zu verbreiten.

Wei: Und gleichzeitig auch andere Kulturen erleben?

Ehrlich: Mich interessiert speziell die Konfrontation zwischen eigener und fremder Kultur. Es ist gerade hier in Ostasien sehr interessant, wie sich europäische, deutsche Kultur mit der chinesischen auseinandersetzt. Chinesische Kultur ist für einen Europäer sehr fremd, allerdings hat es im letzten Jahrzehnt eine interessante interkulturelle Beziehungen gegeben, eine Annäherung. China ist, wenn ich das so sagen darf, in den letzten 20 Jahren im Rahmen der Modernisierung sehr verwestlicht worden - nicht nur die Ökonomie, sondern vor allem auch das Leben in den Großstädten. Ein interessantes Problem sind auch die Verhältnisse von Traditionen in China - kulturelle Traditionen einerseits, dieser Modernisierungsprozess andererseits. Das ist ein im Unterschied zu Europa oder Nordamerika verspäteter Modernisierungsprozess. Er ist nicht nur notwendig, er bietet den Menschen in China viele neue Möglichkeiten der Entfaltung, der Kultivierung und der Freiheit. Es sollten jedoch auch die alten kulturellen Traditionen erhalten bleiben. Es darf nicht dazu kommen, dass das Besondere am Chinesischen am Ende vollständig verschwindet.

Wei: Es gibt immer Widersprüche zwischen Tradition und Modernisierung. Momentan beeinflusst die abendländische Kultur die chinesische alte Kultur sehr. Besonders die Jungen haben eine Neigung zur abendländischen Kultur, haben Sie das gemerkt?

Ehrlich: Ja, genau das ist nämlich die Gefahr. In Nordamerika ist das ein anderes Problem, nicht wahr? Da gab es bis in die zweite Hälfte des 18.Jahrhunderts nur Natur, keine Staaten, keine Ökonomie, keine Kultur. Dort hat man schnell eine amerikanische, moderne Kultur ohne Rücksicht auf Europa entwickeln können. In China jedoch gibt es eine Jahrtausende alte Kultur, noch älter als die europäischen Kulturen. Man muss sie daher so gut es geht erhalten.

Wei: Welchen Eindruck haben Sie von den chinesischen Studenten?

Ehrlich: Ich glaube, dass sich diese junge Generation der 90er Jahre ganz anders entwickelt als die Jugend vor 20 oder 30 Jahren. In diesem Semester habe ich den Eindruck, dass einige Studenten noch nicht ganz konzentriert und diszipliniert sind. Ich bin durchaus für akademische Freiheit. Aber wenn ich die Situation mit europäischen Universitäten vergleiche, denken viele chinesische Studenten offensichtlich, dass man sich an keine Regeln mehr halten muss, dass man vollständig frei ist.

Wei: Vielleicht liegt das daran, dass die Studenten nach dem dritten Jahrgang Praktika machen. Deshalb können sie sich nicht mehr auf das Studium konzentrieren.

Ehrlich: Ja, das verstehe ich auch. Das ist in Deutschland auch ein Problem, dass die jungen Studierenden wenig Berufschancen haben. In Deutschland gibt es eine hohe Akademikerarbeitslosigkeit. Insofern verstehe ich, dass man sich in China ab dem dritten Studienjahr mehr darauf konzentriert, was man später machen kann. Dagegen habe ich nichts, aber ich finde, dass man trotzdem konzentrierter studieren kann.

Wei: Gibt es heute in Deutschland noch viele Studenten, die sich für Goethe, Schiller oder alte Dichter interessieren?

Ehrlich: Ja. Allerdings hat es seit der 1968-Studentenbewegung Veränderungen gegeben. Damals rebellierte die Jugend gegen alles Alte und damit auch gegen die alte Kultur und Tradition. Seitdem dominiert eigentlich die moderne Literatur. Die jungen Leute in Deutschland interessieren sich im Allgemeinen mehr für moderne Literatur und Kunst. Dennoch kommen jährlich über zwei Millionen Touristen nach Weimar wegen Goethe und der Klassik.

Wei: Haben Sie eine Erklärung dafür, dass die jungen Menschen kein Interesse an der Klassik haben?

Ehrlich: Ja, weil in der modernen Literatur ihre Probleme direkter und deutlicher ausgesprochen werden. Die Jugend bevorzugt Literatur, die sie unmittelbar betrifft. Die moderne Literatur ist dabei sicher oberflächlicher im Vergleich zur alten Literatur.

Wei: Welche Bedeutung haben Goethe und Schiller heute?

Ehrlich: Die wichtigste Aufgabe für die Menschen ist die Humanisierung, die ständige Vervollkommnung, um die Menschen feiner zu machen. In Deutschland gab es immer diese Kultur im engeren Sinn, diese Hochkultur, die sich jedoch nicht immer an die Praxis gehalten hat. Das ist auch das Problem der Weimarer Klassik.

Interview und geschnitten von: Wei Jingying

Moderiert von: Qiu Jing

Forum Meinungen
• mengyingbo schrieb "Leben in Changshu"
seit etwas über einer Woche ist nun Changshu 常熟 in der Provinz Jiangsu 江苏 meine neue Heimat - zumindest erstmal für rund 2 Jahre.Changshu (übersetzt etwa: Stadt der langen Ernte) liegt ungefähr 100 km westlich von Shanghai und hat rund 2 Millionen Einwohner, ist also nur eine mittelgroße Stadt.Es gibt hier einen ca. 200m hohen Berg, den Yushan 虞山 und einen See, den Shanghu 尚湖...
• Ralf63 schrieb "Korea"
Eine schöne Analyse ist das, die Volker20 uns hier vorgestellt hat. Irgendwie habe ich nicht genügend Kenntnisse der Details, um da noch mehr zum Thema beitragen zu können. Hier aber noch einige Punkte, welche mir wichtig erscheinen:Ein riesiges Problem ist die Stationierung von Soldaten der USA-Armee in Südkorea...
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