Die Yao-Nationalität ist eine alte Volksgruppe in China. Ihre Geschichte lässt sich bis zu 2.000 Jahre zurückverfolgen. Die meisten Yaos leben in den Bergregionen von Guangxi, Hunan und Guizhou. Vor allem Frauen haben es in diesen Landesteilen schwer: Sie erhalten aufgrund schwieriger finanzieller Bedingungen und schlechter Verkehrsanbindung kaum Zugang zu Bildung. Lan Zhilin aus dem Kreis Rongshui in Guangxi hat es trotzdem mit viel Einsatz und Willen geschafft: Sie ist die erste Ärztin der Yao-Nationalität. Im Folgenden erzählen wir Ihnen ihre Geschichte.
1982 wurde Lan Zhilin in einem abgelegenen Dorf der Gemeinde Baiyun geboren. Bis zur nächsten größeren Siedlung musste sie fünf Stunden lang zu Fuß laufen. Als Lan Zhilin sechs Jahre alt war, hatte sie noch nicht einmal einen offiziellen Namen. Wie andere Mädchen im Dorf hütete sie täglich Rinder auf dem Berg.
„Während wir die Rinder hüteten, beobachteten wir die Burschen, wie sie mit ihren Schultaschen in die Schule gingen. Wir beneideten sie glühend und wollten das auch machen. Wir bewunderten sogar ihre Schulkleidung. Allerdings wussten wir nicht, was es eigentlich bedeutet, zur Schule zu gehen."
1988 kehrte schließlich ein junger Lehrer nach seinem Studienabschluss in sein Heimatdorf zurück. Durch seine Erfahrung wusste er, dass Mädchen in anderen Regionen sehr wohl Zugang zu Bildung hatten. Also besuchte er die Familien der Dorfmitglieder und überredete sie, ihre Töchter in die Schule zu schicken. Der Lehrer gründete schließlich im Dorf eine Schule, wo anfangs nur sechs Kinder lernten. Kinder verschiedener Klassen mussten ein gleiches Klassenzimmer teilen. Lan Zhilin war eine der sechs Schüler. Der Lehrer gab ihr einen schön klingenden Namen – Lan Zhilin.
Dass auch Mädchen die Schule besuchen durften, stieß auf Widerstand von Seiten der älteren Dorfbewohner. Sie sagten, dies nütze ohnehin nichts, denn irgendwann würden die Mädchen ohnehin heiraten. Sie versuchten, den Vater von Lan Zhilin zu bewegen, seine Tochter nicht mehr zur Schule zu schicken.
„Einmal sagte ein älterer Dorfbewohner zu mir, das Lernen habe für Mädchen keinen Sinn. Er glaube auch nicht, dass ich es zu etwas bringen könne. "
Lan Zhilin wollte jedoch nicht aufgeben und sich noch mehr anstrengen, um den anderen Yao-Mädchen mit gutem Beispiel voranzugehen. 1988 begann der Allchinesische Frauenverband in der Region, die erste Schulmädchenklasse einzurichten. Zwei Jahre später besuchten Lan Zhilin und vier ihrer Freundinnen diese Klasse und erhielt eine reguläre Schulbildung. Damals besuchte ihr älterer Bruder ebenfalls die Schule. Die Familie mit einem Jahreseinkommen von nur 100 Yuan RMB konnte es sich jedoch nicht leisten, zwei Kinder zur Schule zu schicken. Da Lan Zhilin bessere Schulleistungen erbrachte, musste der Bruder zu Hause bleiben.
Diese Entscheidung bedauert Lan Zhilin heute noch. Schließlich könnte der Bruder ein besseres Leben führen.
„Ich habe schon ein schlechtes Gewissen gegenüber meinem Bruder. Er ist nun Landwirt. Hätte er damals die Mittelschule absolviert, müsste er heute vielleicht nicht so hart auf den Feldern arbeiten. Dann hätte er sicher einen guten Job in der Stadt finden können. "
Mit schlechtem Gewissen und der Hoffnung auf ein besseres Schicksal lernte Lan Zhilin fleißig. 1997 wurde sie auf der Medizinschule von Guangxi aufgenommen. 2002 bekam sie eine Stelle in der Frauenabteilung der Gemeindeklinik. Später bestand sie ihre Ärzteprüfung und ist seitdem die erste Ärztin der lokalen Yaos.
Viele Yao-Frauen wissen nicht, wie sie mit der Außenwelt kommunizieren. Wenn sie Schwanger sind, gehen sie mit dem Schwiegervater in die Klinik, da ihre Männer draußen arbeiten müssen. Deshalb schämen sie sich, über Beschwerden zu sprechen.
„Früher trauten sie sich nicht, zum Arzt zu gehen oder kamen in Begleitung ihrer Schwiegerväter. Das war natürlich hinderlich für ein vertrauliches Gespräch. Seitdem ich hier bin, ist die Situation anders geworden. Endlich können die Frauen offen über ihre Beschwerden reden."
Jedes Mal, wenn Lan Zhilin Ambulanzdienst in den Dörfern versieht, vermittelt sie den Yao-Frauen Kenntnisse zur Gesundheitspflege. Außerdem konnte sie die Frauen davon überzeugen, in der Gemeindeklinik zu gebären und nicht zu Hause. Seitdem gibt es immer weniger Fehlgeburten.
Dank Hilfe von Benefizprojekten wie dem Programm „Frühlingssprossen" haben Mädchen der Yao-Nationalität heute besseren Zugang zur schulischen Erziehung. Lan Zhilin hofft jedenfalls, dass es immer mehr Yao-Frauen gelingt, ihr Schicksal ähnlich wie sie selbst zu meistern.
Gesprochen von: Xiao Lan
Text von: Yang Qiong