In den sanften Hügelkuppen um die kaiserliche Sommerresidenz herum entstand während der Qing-Dynastie (1644-1911) eine einzigartige Ansammlung von Tempeln. Die sogenannten "Acht äußeren Tempel" vereinigen die charakteristischen Bauelemente der vier chinesischen Volksgruppen Han, Mandschu, Mongolen und Tibeter. Die Vereinigung dieser unterschiedlichen Baustile sollte die nationale Einheit des Kaiserreiches symbolisieren. Vor allem der tibetische Einfluss ist unverkennbar.
Der Potala von Chengde (Foto: Zhong Xi)
Das beste Beispiel hierfür ist der "Putuo Zongcheng Miao", der dem Potala-Palast in Lhasa nachempfunden ist. Der Mini-Potala im Maßstab 1:2 wurde im Jahr 1771 zu Ehren von Kaiser Qianlongs 60. Geburtstag errichtet. So eindrücklich die wuchtige Frontseite des Palastes auch ist, der Aufstieg zum Dach aus purem Gold ist selbst für ältere Leute keine Herausforderung. Die Aussicht auf die grünen Hügel erinnert einen trotz Gebetsfahnen und -mühlen wieder daran, dass man in der Provinz Hebei ist und nicht im fernen Tibet.
Der "Puning Si" (Foto: Zhong Xi)
Im "Puning Si", dem Tempel des "Allgemeinen Friedens", fühlt man sich schon eher wie auf dem Dach der Welt - obwohl auch hier wie im Mini-Potala der Geruch von Yak-Butter genauso fehlt wie die Strenggläubigen, die sich in regelmäßigen Intervallen zum Beten zu Boden werfen. Als architektonisches Vorbild des Puning-Tempels diente das Samye-Kloster in der Nähe von Lhasa.
Gebetsmühlen... ...und Räucherstäbchen (Foto: Zhong Xi)
Während mich der Geruch von Räucherstäbchen und der monotone Gesang der kahlgeschorenen Mönche in ihren roten Roben an meinen Besuch in Tibet erinnerten, ließ mich der Anblick der größten hölzernen Buddhafigur der Welt einen Moment lang gar das irdische Dasein vergessen! Die ungefähr 22 Meter hohe und 110 Tonnen schwere Statue mit ihren 42 Armen ist so eindrücklich, dass selbst der größte Atheist in Ehrfurcht erstarrt.
Ein Hüne von Gestalt - der hölzerne Buddha im Puning-Tempel (Foto: Zhong Xi)
In Chengde finden sich aber nicht nur Imitationen berühmter Bauwerke aus Tibet, sondern auch aus anderen Landesteilen. Mit den aus ganz China nachempfundenen Bauten wollten die Qing-Kaiser den verschiedenen Nationalitäten in ihrem Reich das Gefühl geben, dazuzugehören. Auf architektonische Weise sollte die Einheit des Vielvölkerstaates zum Ausdruck gebracht werden.
China musste sich in jüngster Vergangenheit vom Westen oft den Vorwurf der Produktpiraterie gefallen lassen. Dass es auch umgekehrte Fälle gibt, beweist die Geschichte von Sven Hedin (1865-1952). Der berühmte schwedische Forscher und Entdecker war wohl einer der ersten ausländischen Besucher in Chengde. Während einer Forschungsreise nach Asien in den späten 1920er Jahren besuchte der Stockholmer auch die ehemalige Sommerresidenz der chinesischen Kaiser. Im Auftrag des Unternehmers Vincent Bendix suchte Hedin in China nach einem lamaistischen Tempel, den er in Einzelteile zerlegt an die Weltausstellung im amerikanischen Chicago verschiffen konnte. Seine Wahl fiel schließlich auf den "Xumifushou Miao" in Chengde, einen Nachbau des Tashilhunpo-Klosters in Tibet. Da ihm der Kauf dieses Tempels verweigert wurde, entschied sich Hedin, den "Xumifushou Miao" mit seinen acht goldenen Drachen auf dem Dach von chinesischen Architekten im Maßstab 1:1 nachbauen zu lassen. Die Kopie wurde anschließend unter dem Namen "Bendix Lama Tempel" an den Weltausstellungen in Chicago 1933 und in New York 1939 gezeigt.
Der von Hedin kopierte "Xumifushou Miao" (Foto: Zhong Xi)
Nach Irrwegen landete der "Bendix Lama Tempel" im Jahr 1986 in Schweden, womit Hedins Traum von einem chinesischen Tempel in seiner Heimat lange nach seinem Tod doch noch in Erfüllung ging - und Schweden einen Hauch von Tibet aus Chengde erhielt.
Mit freundlichen Grüßen aus dem Mini-Tibet von Hebei,
Simon Gisler