Ihre Enden sind schon etwas ausgefranst, aber ich trage sie noch immer um den Hals. Nur beim Duschen und beim Schwimmen nehme ich sie ab, denn ich möchte sie noch möglichst lange behalten. Ich spreche von der bunten Schnur mit der gelben Quaste, die ein tibetischer Mönch geflochten hat und die inzwischen mein ganz persönlicher Glücksbringer ist. Gekauft habe ich sie in Yumbu Lhakang, dem ältesten Tempel von ganz Tibet mit Grundmauern aus dem zweiten Jahrhundert vor Christus. Yumbu Lhakang thront, über mehrere Geschosse verteilt, hoch über dem Yarlung-Fluss und von dort oben hat man einen wunderbaren Blick auf Dörfer und Felder der Region Shannan. Ich liebe diesen Tempel, auch weil hier oben keine Autos hupen, keine Motorräder knattern, keine Marktschreier ihre Souvenirs anbieten. Es ist eine Oase der Ruhe, die man nur zu Fuß oder mit dem Pferd erreichen kann.
Der älteste Palast in Tibet: Yumbu Lhakang (Foto: Kong Jie)
Unsere kleine Gruppe hat sich für das Laufen entschieden. In der Mittagshitze steigen wir gemächlich, Schritt für Schritt, nach oben und lassen uns überwältigen von der Schönheit Yumbu Lhakangs. Nur nicht außer Atem geraten, denn wer sich in Tibet, auf fast 4.000 Metern über dem Meer, zu schnell bewegt, hat schon verloren. Man muss langsam gehen, darf auf keinen Fall rennen und nach Luft ringen. Schon die Ankunft nach knapp dreistündigen Flug aus Chengdu, wo unsere Maschine einen Zwischenstopp eingelegt hatte, war eine völlig neue Erfahrung. Erst der spektakuläre Landeanflug nach Lhasa, zwischen steil aufragenden Bergen, dann die ersten Wege auf dem großzügig angelegten Flughafen. Am Anfang ging es mir noch gut, da konnte ich lächeln, als man mir den landestypischen Seidenschal, den Hada, überreichte. Aber am Abend im Greeting Hotel schlug die Höhe erbarmungslos zu. Selbst mir als erfahrenem Bergsteiger, der in den europäischen Alpen schon öfters in 3000 Metern Höhe zu Fuß, auf Skiern oder mit dem Mountain-Bike unterwegs war, fiel das Atmen schwer und ich bekam höllische Kopfschmerzen. Zum Glück gab es im Hotel eine tibetische Wundermedizin gegen die Höhenkrankheit, so dass ich schon am nächsten Morgen wieder fit war und nicht ins Sauerstoffzelt musste.
Stefan Maier genießt die Aussicht auf dem Dach des Jokhang-Klosters (Foto: Kong Jie)
Wäre auch schade gewesen, denn schon am ersten Tag durfte unsere Gruppe in Lhasa erste Eindrücke sammeln: erst sahen wir den weltberühmten Potala-Palast, dann am Nachmittag besichtigten wir das wunderbar verzierte Jokhang-Kloster mit bunten Malereien und den erstaunlichsten Buddha-Statuen. Die Religiösität und die Spiritualität der Menschen geben Tibet eine ganz besondere Prägung. Nicht nur die zahlreichen Klöster, auch Straßen, Städte, Berge haben etwas Magisches. Etwa dann, wenn gläubige Tibeter vor dem Potala-Palast wieder und wieder auf die Knie fallen. Wenn sie unablässig aus dem Handgelenk heraus ihre Gebetsmühlen drehen. Oder wenn sie Häuser, Brücken, Felswände mit bunten Gebetsfahnen verzieren. Überall leuchten die bunten Farben dieser auf Schnüren aneinandergereihten Fahnen - die blaue, die für den Himmel steht, die weiße für die Wolken , die rote für die Sonne, die grüne für das Wasser und die gelbe für die Erde.
CRI-Sonderpreisträger Stefan Maier vor dem Potala-Palast (Foto: Kong Jie)
Ähnlich bunt wie die Farben der Gebetsfahnen war unsere Gruppe. Da war Jhon, der junge Kolumbianer, der die ganze Zeit mit seinem Handy filmte und bestimmt ein Dutzend Speicherkarten voll machte. Oder Linda, die Engländerin aus Leeds, die hervorragend Chinesisch sprach und schon als Studentin in den Achtziger Jahren auf abenteuerlichen Wegen von Peking über Lhasa nach Katmandu gereist war. Dann Xavier, der Franzose, der mit seiner chinesischen Dolmetscherin stundenlang diskutieren konnte. Auch Stanislaw aus Tschechien interessierte sich sehr für Kultur und Geschichte der Tibeter. Besonders beeindruckte mich Selvam. Der Inder leitet den Club der tamilischen Hörer von China Radio International (mit sage und schreibe 50.000 Mitgliedern) und führt Buch über sämtliche Sendungen. Und dann war da noch der Staatsekretär aus Nepal, der bereits als Diplomat in Lhasa gedient hatte und jetzt als Gast von CRI mit uns durch Tibet reiste.
Natürlich hat China Radio International unserer international zusammengesetzten Gruppe nicht nur das traditionelle Tibet gezeigt, sondern auch für das moderne Tibet geworben. Und so bekamen die Gäste aus England, Frankreich, Tschechien, Kolumbien, Indien, Nepal und aus Deutschland neben Klöstern und Tempeln auch eine blitzsaubere Schule und eine medizinische Fabrik in Lhasa sowie ein Naturschutzgebiet am Rand der Hauptstadt zu sehen. Vor allem in der Schule hätte der Unterschied zu Deutschland kaum größer sein können. In den Klassenzimmern herrschte eiserne Disziplin, die Mädchen und Buben konnten auf Kommando und im Chor Vokabeln herunterrattern und sie wirkten richtig stolz, als sie uns Besuchern die Bilder mit chinesischen KP-Funktionären erklären konnten. Was mir gut gefallen hat: dass alle Schülerinnen und Schüler unabhängig vom Einkommen ihrer Eltern die gleiche Kleidung trugen. Auch in Deutschland diskutiert man immer wieder, ob Schuluniformen nicht besser wären. Weil dann keiner mehr mit teurer Kleidung und überflüssigem Marken-Schnick-Schnack angeben kann. Ebenfalls erstaunlich: Wie gut die Kinder chinesisch und tibetisch lernen und dazu noch englisch. Und ganz besonders nett: die bunten Kinderzeichnungen an der Wand. Mit Bergen, Flüssen, Seen wie wahrscheinlich in jeder Schule der Welt. Auf den Bildern waren aber auch selbst gemalte Yaks mit langen Zotteln und stolzen Hörnern zu sehen. Bilder von Kindern, wie es sie vermutlich nur in Tibet gibt.
Stefan Maier nimmt den Preis entgegen (Foto: Kong Jie)
Der Höhepunkt unseres Aufenthalts in Lhasa war natürlich die feierliche Verleihung der Sonderpreise, die China Radio International für sein Quiz "Schönes Tibet" ausgelobt hatte. Die Zeremonie war hoch offiziell und festlich und selbstverständlich zogen die Preisträger ihre besten Anzüge an, um die Urkunden im edlen Rahmen in Empfang zu nehmen. Sehr entspannt ging es auf der anschließenden Feier zu. Die Gäste genossen chinesische Küche, sie konnten sich von der Trinkfestigkeit der Chinesen ebenso überzeugen wie von der Sangeskunst der Tibeter. Denn jeder von uns Preisträgern bekam am Tisch eine Art Privatvorstellung mit tibetischen Volks-, Liebes- und Trinkliedern. Der Abend hätte lang und noch sehr viel fröhlicher werden können, wenn man uns nicht rechtzeitig Einhalt geboten hätte. Denn am nächsten Morgen stand ein weiterer Höhepunkt auf dem Programm und dies im wahrsten Sinne des Wortes.
Es war gegen Mittag und unser Toyota-Bus war nach etlichen Serpentinen und schwarzen Rauchwolken endlich ganz oben. Als begeisterter Bergsteiger hatte ich meinen Höhenmesser dabei und dieser zeigte eine Höhe an, die er noch nie gezeigt hatte: 5.100 Meter! Wir waren auf der Fahrt zum berühmten Namco-See, mit einer Höhe von 4.800 Metern der höchst gelegene See der Welt. Und dazu mussten wir noch diesen einen Pass überqueren. 5.100 Meter, so hoch war ich noch nie und auch die meisten Mitreisenden betraten Neuland, als sie aus dem Bus sprangen und Fotos machten. In der Ferne blitzte bereits der Namco-See herauf und hier begriff ich, warum Tibet das "Dach der Welt" genannt wird. Die Weiterfahrt zum See war eine Reise durch fast menschenleeres Weideland. Durch eine Landschaft, in der die Konturen verschwammen, weil alles so weitläufig war. Die Stichstraße endete an einem schmalen Uferabschnitt, entsprechend war der Touristenauftrieb. Doch wer die strapaziöse Fahrt auf sich genommen hatte, wurde reich belohnt. Mit kristallklarem, blauen Wasser. Mit einer Fernsicht auf Bergriesen, die den berühmten Gipfeln des Himalaya kaum nachstanden. Sogar ein Siebentausender war dabei, der eisgepanzerte Nyainqentanglha mit 7.111 Metern.
Kristallklares Wasser des Namtso-Sees (Foto: Kong Jie)
Mit seinen Kulturschätzen und seiner beeindruckenden Landschaft ist Tibet ein großartiges Reiseziel. Das habe ich auch mit voller Überzeugung in einer Sendung des tibetischen Rundfunks gesagt. Gemeinsam mit Linda aus England war ich eine Stunde Studiogast zum Thema "Tourismus in Tibet" und ich habe mich bemüht, so gut es meine Englisch-Kenntnisse zuließen, die Schönheiten Tibets zu schildern. Wer Angst vor der Höhenkrankheit hat, kann ja mit der 2006 fertig gestellten Lhasa-Bahn anreisen. Auf der 48 Stunden dauernden Fahrt von Peking in die tibetische Hauptstadt kann man sich besser akklimatisieren, als wenn man mit dem Flugzeug kommt. Sicher, Tibet muss sich als Touristenziel erst noch einen Namen machen und das hängt auch damit zusammen, dass die Einreise für Individualtouristen nicht ganz einfach ist. Wer die bürokratischen Hürden scheut, sollte Tibet am besten mit einer organisierten Gruppenreise besuchen und wird sicher nicht enttäuscht. In Deutschland gibt es einige Reiseveranstalter, die auf Asien und China spezialisiert sind und auch ein Visum für Tibet beschaffen können.
Was bleibt von meinem Besuch in Tibet? Neben den erwähnten Eindrücken von Klöstern und Landschaften ganz sicher auch die Erinnerung an chinesische und tibetische Gastfreundschaft. Das begann bereits in Peking, als mir die Deutsche Redaktion einen so freundlichen Empfang bereitete und alle meine Fragen mit großer Geduld beantwortete. Ich denke gerne an die Tischgespräche und Trinksprüche mit hohen Vertretern von CRI, etwa mit dem stellvertretenden Chefredakteur Ma Bohui, mit dem Vizeintendanten Wang Yunpeng, mit seiner stets hilfsbereiten Assistentin Xing Bo. Ich denke aber auch gerne an die Begegnungen mit den chinesischen Dolmetschern, die unsere kleine Gruppe begleitet und wesentlich zum Gelingen der Reise beigetragen haben. Auch ihnen gebührt mein Dank, vor allem natürlich dem für die deutsche Sprache zuständigen Übersetzer Kong Jie. Er hat auch dann eine Antwort gewusst, wenn ich kritische Fragen gestellt habe oder mit den offiziellen Darstellungen meiner Gastgeber nicht einverstanden war.
Danke aber auch den Menschen in Tibet. Auch sie haben mir die Augen geöffnet und mein Bewusstsein geschärft. Für die Schönheiten Tibets ebenso wie für seine nicht weg zu diskutierende Probleme. Ich werde die Gesichter der Männer und Frauen und Kinder nicht vergessen. Gesichter, die mir von einer großartigen Geschichte, von einer tiefen Verwurzelung im Glauben und von den Herausforderungen der Gegenwart erzählt haben.
Auch deshalb habe ich mir eine dieser schönen, bunten Gebetsfahnen gekauft, wie man sie in Tibet überall vorfindet. Ich habe sie ebenso mit nach Deutschland genommen, wie die eindrucksvolle Urkunde von CRI für den Sonderpreis im Hörerwettbewerb und all die schönen Geschenke, mit denen uns unsere Gastgeber geehrt haben. Die Urkunde von China Radio International, auf die ich sehr stolz bin, wird ihren Ehrenplatz noch bekommen. Die tibetische Gebetsfahne war leichter aufzuhängen, sie flattert bereits vor meinem Fenster im Wind. Sie soll mir Glück bringen, genau so wie die leicht ausgefranste Halskette, die ich in Yumbu Lhakang gekauft habe. Hoffentlich hält sie noch eine Weile.