Es geht beschaulich zu in den Pekinger Hutongs. Alte Menschen sitzen auf kleinen Hockern auf der Straße, einige putzen Gemüse, andere wedeln sich mit einem Bambusfächer kühle Luft zu. Die schmalen, traditionellen Gassen, die sogenannten Hutongs in der chinesischen Hauptstadt werden gesäumt von den taubengrauen Wänden kleiner Häuser. In diesen einstöckigen Gebäuden leben oft sechs, sieben, acht Personen in einem Raum zusammen. Um der Enge der Wohnungen zu entfliehen, haben viele ihr Alltagsleben auf die Straße verlegt. Immer wieder stehen Grüppchen von Männern unter einem Baum zusammen und spielen Karten oder chinesisches Schach. Man schwatzt, lacht und beobachtet das Treiben auf der Straße. Das Leben in den Hutong ist langsam und einfach.
Doch dieser Lebensstil des alten Peking ist bedroht. Seit einigen Monaten kursieren Gerüchte, dass die Gegend in unmittelbarer Nähe der Verbotenen Stadt abgerissen werden soll. Die Stadtväter wollen die Straßen modernisieren. In historischer Kulisse sollen Geschäfte entstehen, mit Tiefgarage und Einkaufszentrum. Die traditionelle Lebensart soll auf eine geschönte, ordentlich polierte Version gezeigt werden, fürchten Kritiker der Idee.
Tatsächlich ist das Leben in den Hutongs alles andere als romantisch. In kaum einem der alten Häuser gibt es eine Toilette. Die Bewohner müssen Tag und Nacht, Sommer wie Winter zu den Gemeinschaftsklos gehen. Die sind in den Gassen alle paar hundert Meter in einem Toilettenhäuschen untergebracht und meist schon an ihrem Geruch zu erkennen. Hinzu kommt, dass es in den alten Häusern oft dunkel und stickig ist. Und so würden viele hier im Hutong lieber heute als morgen in ein modernes Hochhaus ziehen: „Wir leben zu siebt in drei kleinen Zimmern, insgesamt haben wir ungefähr 30 bis 40 Quadratmeter und das ist einfach zu klein für uns alle", sagte etwa Frau Tin, eine schlanke, hochgewachsene Frau Anfang vierzig. „Ich würde lieber in einem modernen Apartmentblock wohnen. Dann hätten wir eine Küche, eine moderne Dusche und ein eigenes Bad. Das wäre viel angenehmer."
Viele Hutong-Bewohner fühlen sich zudem wie auf einem Präsentierteller. Denn die alten Gassen am Glockenturm sind zu einer Pekinger Touristen-Attraktion geworden sind. Jeden Tag lassen sich chinesische wie ausländische Touristen zu Hunderten mit Fahrradrikschas durch die kleinen Straßen kutschieren. Aus den Rikschas heraus richten sie auf alles ihre Kameraobjektive.
Vor allem die Besitzer der vielen kleinen Restaurants und Geschäfte würden jedoch ihr Einkommen verlieren, wenn die Bagger kämen. Sie sind deswegen dagegen, dass man die Gegend abreißt. Denn der Abbruch der Häuser würde auch bedeuten, dass Peking einen weiteren Teil seiner ursprünglichen Identität verliert, meint etwa die 61 Jahre alte Frau Zhao, die ihr ganzes Leben hier im Hutong verbracht hat. „Ich finde, dass es hier ein wenig unordentlich und eng ist und dass sich eine Gegend wie diese hier eigentlich nicht schickt für eine Hauptstadt. Allerdings bin ich gegen einen Abriss, weil man hier noch etwas vom alten Peking erleben kann und dieser Lebensstil gehört nun mal zu uns und zur Stadt."
Nicht nur in der chinesischen Hauptstadt, überall im Land werden derzeit alte Häuserzeilen, manchmal ganze Dörfer eingerissen und an ihrer Stelle moderne Zweckbauten und Shoppingzentren errichtet. Um die Geschichte nicht völlig zu verdrängen, lässt man an manchen Orten gleichzeitig sogenannte historische Dörfer entstehen. Dann werden historisierende, pseudo-traditionelle Straßenzüge gebaut, das heißt, man klebt auf moderne Betonteile alt aussehende Fassadenteile. Bei vielen Chinesen, die sich einen Urlaub leisten können, sind diese historischen Dörfer mittlerweile zu beliebten Reisezielen geworden. Gleichzeitig wächst aber auch die Zahl derer, die diese Repliken des traditionellen China ablehnen. In Peking haben sich einige von ihnen zu einer Nicht -Regierungs-Organisation zusammengeschlossen, dem „Beijing Cultural Heritage Protection Center". Zhang Pei ist eine der vier festangestellten Mitarbeiter der Pekinger NGO. Sie fürchtet etwa, dass China mit seinen 55 ethnischen Minderheiten seine Besonderheit verliert, wenn alles Alte für noch mehr Shoppingzentren und Starbucks-Cafes eingerissen wird: „Nicht nur in Peking, sondern in fast allen chinesischen Städten gibt es noch authentische Orte. Dort herrscht eine sehr eigene Art zu leben, aber sie verschwindet, wenn man alles abreißt und modernisiert. Wir geben unsere Vielfalt auf, wenn alle auf die gleiche Art leben. Das ist schade, weil viele Menschen dadurch auch das Gefühl verlieren, zu einer bestimmten Region zu gehören und ihre sehr eigene kulturelle Identität verlieren."
Statt die Hutongs im Pekinger Zentrum abzureißen, plädiert Zhangs NGO deswegen für eine Restaurierung der alten Gassen und Häuser. Doch wer das bezahlen soll, auf diese Frage hat die Mitarbeiterin keine klare Antwort. Doch die sollte sie rasch finden. Die Gegend im Zentrum der Hauptstadt ist ein begehrtes Spekulationsobjekt. Mit dem Bau neuer Geschäfte könnten Investoren viel Geld verdienen.
Text und Fotos: Silke Ballweg