Wer nicht an oder auf der Großen Mauer war, der war nicht in China. Die Chinesen selbst gehen sogar noch einen Schritt weiter, indem sie sagen: „Wer nicht auf der Großen Mauer war, der ist kein guter Mann." Das sollte man sich zu Herzen nehmen, denn man würde tatsächlich eines der großartigsten Bauwerke überhaupt verpassen. Nun hat man bei insgesamt 629 Kilometern Befestigungsanlage natürlich die Qual der Wahl. Die meisten Touristen zieht es zu den Abschnitten Badaling, Mutianyu oder Simatai, die alle ihren eigenen Reiz haben, aufgrund ihrer Popularität jedoch oftmals überlaufen sind. Wer also einmal ein Stückchen Mauer ganz für sich allein haben möchte, ist in Jiankou hervorragend aufgehoben.
Jiankou ist ein 9,3 Kilometer langer Abschnitt im Beijinger Vorortbezirk Huairou, 73 Kilometer nördlich der Hauptstadt; mit dem Auto ist man in zirka zwei Stunden dort. 1368, während der Ming-Dynastie wurde dieses Teilstück aus weißem Dolomit erbaut, wodurch es schon aus großer Entfernung sichtbar ist. Unabhängig davon wäre die Mauer ohnehin nicht zu übersehen: Wie ein geschuppter Drache windet sie sich über die Bergrücken und -kämme, über zackige Klippen und Steilabfälle. In Jiankou ist sie noch „wild" und ursprünglich, nichts wurde hier modernisiert oder verändert. Da die ursprüngliche Konstruktion aus zwei begrenzenden Mauern und dazwischen aufgeschütteter Erde bestand, ist auf dem Weg genug Platz für Pflanzen. Im Frühjahr blühen die Kirschblüten quasi direkt auf dem Weg.
Teilweise ist der Weg sehr steil, das gilt speziell für einige der spektakulärsten Stellen wie den „Wachturm des Hochfliegenden Adlers", der auf dem höchsten Gipfel erbaut wurde. Die „Himmelsstufen" sind eine weitere berühmte Stelle – hier steigen die Stufen fast senkrecht in die Höhe, so dass es schwierig ist, auf ihnen Halt zu finden. Trittsicherheit und Schwindelfreiheit sind bei diesen Abschnitten also schon gefordert, und man sollte auch auf ein gutes Schuhwerk achten. Hier wurde wie gesagt nichts renoviert, und dadurch können unbefestigte Steinbrocken schon mal ein gutes Stück herunterpoltern. Alles in allem ist das aber kein Problem für körperlich halbwegs fitte Wanderer – schließlich legt man oft Zwischenstopps ein, um die spektakuläre Aussicht zu fotografieren.
Als Zwischenstopps bieten sich unter anderem die Wachtürme an, die mehr oder weniger gut erhalten sind und einen aufschlussreichen Einblick in das frühere Leben der Wachmannschaften geben. In den kleinen Leuchtfeuertürmen lebten in der Regel vier Wachleute, während die größeren Wachtürme von mindestens zwölf Soldaten besetzt waren. Bequem hatten sie es damals nicht, durch die engen Eingänge muss man sich teilweise regelrecht hindurchzwängen. Fünf Stunden sollte man also für diese Wanderung mindestens einplanen. Als Belohnung für diese Anstrengung wartet in der Dorfschenke abschließend noch ein kühles Getränk oder eine leckere Stärkung aus der lokalen Küche – Blick auf die Mauer inklusive.
Text und Fotos: Wolfgang Kuhn