Überfüllte Einkaufsmeilen, Endlos-Schlangen vor Umkleidekabinen, unüberschaubares Angebot: Die oft nervenaufreibende Suche nach dem idealen Kleidungsstück beginnt.
Ein schickes Hemd ist die halbe Miete, finde ich. Aber wie soll es aussehen? Einfarbig, oder gestreift, lang- oder kurzärmelig, verspielt oder eher schlicht? Fragen über Fragen, deren Beantwortung eine ganze Schar eifriger Verkäuferinnen nur zu gern für ihren Kunden übernehmen möchte.
Ich weiß nicht, wie Sie dazu stehen, aber ich persönlich lasse mich im Kaufhaus nicht gerne beraten. Bei all der Fürsorge, dem "Zupfen", "Ziehen" und "Gut Zureden" werde ich nervös. Ein objektives Urteil ist eh nur bedingt zu erwarten, geht es am Ende doch hauptsächlich darum, irgendein Stück an den Mann beziehungsweise an die Frau zu bringen. Die Ärmel sind zu kurz, der Kragen ist zu eng, und Rosa ist vielleicht doch nicht die richtige Farbe. Egal - Hauptsache, man geht nicht mit leeren Händen nach Hause.
Damit ist Schluss.
Das perfekte Hemd ist maßgeschneidert, und dafür muss man sich hier in China finanziell nicht einmal allzu weit aus dem Fenster lehnen. Diesen besonderen Service möchte ich heute einmal ausprobieren. Also mache ich mich auf den Weg zu einer der besten Adressen für günstige Schneiderwaren: Den Yashow-Markt im Beijinger Ausgehviertel Sanlitun.
"The Village" - Einkaufs- und Ausgehparadies in Sanlitun
"The Village" - Einkaufs- und Ausgehparadies in Sanlitun
Nach einem zehnminütigen Fußmarsch von der U-Bahnstation Tuanjiehu der Linie zehn gen Westen, vorbei an den glitzernden Fassaden des "Village", erreiche ich das im Vergleich dazu eher trist anmutende Marktgebäude. Auf dem Parkplatz davor werden ganze Busladungen Kaufwütiger abgesetzt. Die Gänge sind überfüllt. Man sieht vor lauter Menschen die Waren gar nicht mehr.
Parkplätze sind rar - Das riesige Angebot im Yashow lockt täglich zahlreiche Shoppingbegeisterte.
Das Angebot ist überwältigend.
Nein, heute brauche ich kein T-Shirt, keine Schuhe, keine Uhr und auch kein anderes der unzähligen Produkte aus dem Yashow-Sortiment, die mir von den geschäftstüchtigen Händlern ans Herz gelegt werden. Vom Lautstärkepegel her kann es der Yashow-Markt locker mit einem der Tanzschuppen Sanlituns aufnehmen. Ruhe bewahren! Die Schneider sind im dritten Stock.
Maßgeschneidertes gibt's im "Sally Tailor Shop" auf der dritten Etage.
Auf der dritten Etage angekommen, stehe ich vor dem "Sally Tailor Shop". Den kann man nicht verfehlen: Es ist der größte Schneiderbetrieb im Yashow und auch der erste, der mit dem Marktgebäude vor etwa acht Jahren sein Geschäft eröffnete. Die Konkurrenz ist groß. Werbung funktioniert durch Mund-zu-Mund-Propaganda. Ist der Kunde zufrieden, wird er mit ziemlicher Sicherheit auch einmal einen Freund oder Bekannten mitbringen.
Viele Kunden kommen aus dem Ausland
Die meisten davon stammen aus den USA, Australien, Frankreich, der Schweiz und Deutschland, aber auch Chinesen lassen sich hier ausstatten. Früher seien viel mehr Ausländer als Einheimische gekommen, die Zahlen würden sich allerdings seit ein paar Jahren angleichen, sagt Schneider Zhao Guohua.
Zhao Guohua arbeitet seit fünf Jahren als Schneider im Yashow.
Innerhalb von zwei bis drei Tagen kann man sich so ziemlich alles anfertigen lassen. Die zumeist männlichen Kunden wollen vor allem eins: Einen maßgeschneiderten Anzug.
Laut Zhao lassen sich Frauen schicke Blusen, klassisch chinesische Qipaos, Seidennegligés oder sogar Brautkleider schneidern. Das dauert dann wahrscheinlich ein bisschen länger. Hemden sind schnell fertig.
Im Sommer herrscht Hochsaison, denn da sind die meisten Touristen in der Stadt. Während des Frühlingsfests ist nicht so viel los, viele chinesische Kunden fahren zu ihren Familien. Trotzdem stünden die Nähmaschinen bei "Sallys" nur an zwei Tagen still, betont der Schneidermeister.
Zhao Guohua, 39, ist vor 20 Jahren nach Beijing gekommen, um das Schneiderhandwerk von einem Meister aus seiner Heimatprovinz Jiangsu zu erlernen. Seit fünf Jahren arbeitet er als einer von 30 Schneidern bei "Sallys". Ein befreundeter Kanadier hat mir den sympathischen Schneider empfohlen.
Damit das Hemd perfekt sitzt, wird gründlich nachgemessen. Neben den Maßen wird auch der Schnitt auf dem Bestellschein festgehalten.
Kein Zupfen, kein Ziehen - sorgsam Maßnehmen: In nicht einmal fünf Minuten ist mein kompletter Oberkörper eine Ansammlung von Zahlen auf einem Bestellschein. Baucheinziehen? Lieber nicht, das würde sich bei der Anprobe rächen. Nun noch die Auswahl von Stoff und Schnitt. Bei der Unmenge an Farben und Mustern keine leichte Angelegenheit.. Ich nehme mir Zeit, niemand drängt mich oder macht unbeholfene Vorschläge.
Mindestens 100 verschiedene Muster und Farben stehen zur Auswahl.
Die Qual der Wahl
Am Ende entscheide ich mich für rot-weiß gestreifte Baumwolle. Der Schnitt ist klassisch feminin und aus verschiedenen Beispielen der bereitliegenden Musterkataloge zusammengesetzt. Man kann natürlich auch ein eigenes Muster vorlegen.
Da ich auf Empfehlung gekommen bin, steht der Preis schon fest. Ich zahle genauso viel, wie mein kanadischer Bekannter: 100 Yuan RMB. Schneider Zhao sagt, das sei ein guter Preis - finde ich auch.
Einen Anzug bekommt man übrigens ab 800 Yuan RMB, je nach Material, versteht sich. Allein für einen traditionellen chinesischen Qipao stehen 20 verschiedene Sorten von Seide zur Auswahl. Um die 700 Yuan RMB müsste man für so ein Kleid einplanen. Vielleicht beim nächsten Mal?
Am darauf folgenden Tag bin ich wieder im Yashow - zur Hemdanprobe.
Am nächsten Tag ist Anprobe. Zhao Guohua legt die Position der Knopflöcher fest.
Die Knöpfe fehlen
Auch ein paar Nähte sind noch offen. Keine Falten, nichts zwickt und der Kragen sitzt. Am dritten Tag ist es dann fertig und passt wie angegossen. Auch das Preis-Leistungs-Verhältnis ist sensationell. Nochmal Hemden von der Stange? Nicht für mich.
Adresse:
Yashow Clothing Market (Sanlitun Yaxiu Fuzhuang Shichang - 三里屯雅秀服装市场), Öffnungszeiten: täglich 9:30 - 21:00 Uhr
58 Gongtibeilu, Chaoyang District, Beijing
U-Bahnlinie 10, Tuanjiehu
Der "Sally Tailor Shop" befindet sich gegenüber der Rolltreppe auf der dritten Etage.
Text: Marie Bollrich
Bilder: Marie Bollrich und Johannes Müller-Diesing
Übersetzung: Liu Yaoguang