Das "Disneyland des Sozialismus"
Im Vordergrund reihenweise schachbrettartig angeordnete uniforme Einfamilienhäuser, im Hintergrund die rauchenden Schlote der Schwerindustrie und die Umrisse der Chinesischen Mauer, so liebe Leser, präsentiert sich Huaxi dem Besucher vom 15. Stockwerk des "Huaxi Golden Tower Hotel". Der 1996 fertiggestellte pagodeähnliche Hotelturm ist das Wahrzeichen Huaxis - zumindest noch bis ins Jahr 2011. Dann wird er vom "New Countryside in the Sky", einem modernen Hochhaus mit Geschäften und Wohnungen für 400 Familien, abgelöst werden. Mit einer Höhe von 328 Metern wird das "New Countryside in the Sky" nach seiner Fertigstellung zu den 15 höchsten Gebäuden der Welt zählen.
Huaxi bietet aber bereits jetzt eine ganze Reihe anderer architektonischer Sehenswürdigkeiten. In Sichtweite des alten Dorfkerns schlängelt sich ein Duplikat der Chinesischen Mauer mehrere hundert Meter entlang einer Hügelkette. Dazwischen thront das Tiananmen-Tor, von dem aus man einen wunderbaren Blick auf den Pariser Triumphbogen, das Washingtoner Kapitol oder diverse nationale Sehenswürdigkeiten wie etwa den Konfuziustempel aus Qufu hat. Alle Gebäude sind praktisch im Maßstab 1:1 nachgebaut. Die Duplikate verkörpern nicht nur das Selbstbewusstsein des wohlhabenden Dorfes, sondern bilden zugleich eine interessante Touristenattraktion für die Menschen der umliegenden Region, die es sich finanziell (noch) nicht leisten können in China - geschweige denn im Ausland – herumzureisen.
Nicht minder interessant für Besucher ist der „Park des Glücks" im Dorfzentrum. Umgeben von neun wuchtigen Türmen in der Form von chinesischen Pagoden kann der Besucher im wahrsten Sinne des Wortes an der Geschichte der Kommunistischen Partei Chinas vorbeilaufen. Von einer kleinen Anhöhe aus blickt das erste Führungsgremium mit dem „Grossen Steuermann" Mao Zedong in der Mitte auf eine Ansammlung von riesigen Glocken. Im Hintergrund schießen Wasserfontänen in den Himmel. Wandert man um die Parkanlage herum, passiert man die Statuen von Heldenfiguren des sozialistischen Chinas, wie etwa jene des Soldaten Lei Feng, der auch heute noch landesweit für Hilfsbereitschaft und Uneigennützigkeit steht.
Fünf Gehminuten entfernt befindet sich der "Bauernpark" mit der Ruhmeshalle von Huaxi. Alle Auszeichnungen, die das Dorf auf regionaler und nationaler Ebene errungen hat, sowie eine Vielzahl von Geschenken sind hier ausgestellt. Die Palette der Ausstellungsobjekte reicht von eher skurrilen Gegenständen wie einem Rennmotorrad der Marke "Zhongshen" über klassische chinesische Kunst aus Jade, Holzschnitzereien, Stickereien, Gemälden bis hin zu wunderschön verzierten Vasen. Überall glänzt und glitzert es.
Ebenfalls äußerst interessant - besonders für die ausländischen Besucher - sind die Schautafeln entlang der Hauptstrasse im Dorfzentrum mit den Porträts von Bürgern, die aufgrund ihrer hervorragenden Leistungen an ihrem Arbeitsplatz ausgezeichnet wurden. Zu den prämierten Personen gehört unter anderem die Chinesisch-Übersetzerin von Wu Renbao, ist doch der Macher von Huaxi der hochchinesischen Sprache nur bedingt mächtig.
Dieser im ganzen Dorf wahrnehmbare eigenwillige Mix aus sozialistischen und westlichen Elementen inspirierte einen amerikanischen Reporter vor kurzem, Huaxi den passenden Übernamen "Disneyland des Sozialismus" zu geben.
Nach Einbruch der Dunkelheit ist in Huaxi für gewöhnlich jedoch nichts von einer Jahrmarktstimmung zu spüren. Discos und KTV-Bars fanden wir keine. Bereits um zehn Uhr sind die meisten Geschäfte und Lokals geschlossen. Ein eigentliches Nachtleben existiert nicht. Wie wir an unserem letzten Abend in Huaxi erleben durften, bildet das diesjährige Tourismusfestival diesbezüglich aber eine Ausnahme, herrschte doch auf dem Dorfplatz eine Atmosphäre wie auf dem Rummelplatz.
Es schien, als wäre das ganze Dorf auf den Beinen, um an den zahlreichen Verkaufsständen entlang zu schlendern, oder sich an den vielen Imbissständen zu stärken. Überall brutzelte und rauchte es. Um mehr Kunden anzulocken, tanzten einige Grilleure sogar mit entblößten Oberkörpern. Unter den angebotenen Leckerbissen befanden sich auch exotische Snacks wie Vogelspinnen, Skorpione, Raupen oder Seegurken. Zu den Attraktionen gehörten zudem einige kleine Fahrgeschäfte oder Aktivitäten wie Luftgewehrschiessen und Ringwerfen. Die größte Überraschung aber war eine Art Kuriositätenshow. Für 2.5 Yuan RMB erhielt man Eintritt in ein Zelt, in dem man eine leichtbekleidete junge Dame mit einer Schlange um den Hals bewundern konnte.
Noch empfängt das "Huaxi Golden Tower Hotel" kaum Gäste aus dem Ausland, wie wir von der Hotelrezeption erfuhren. Die neugierigen Blicke der Dorfbewohner am Umzug vom Sonntag sowie auf dem Jahrmarkt von heute Abend zeigten, dass viele Einheimische noch kaum Ausländer gesehen haben. Ob sich diese Situation durch das erste internationale Tourismusfestival ändern wird, kann nur die Zukunft zeigen. Huaxi hat aber auf jeden Fall einiges zu bieten, besonders für Geschichtsinteressierte und solche, die das ländliche China einmal von einer ganz anderen Seite kennenlernen möchten. Damit schließe ich mein Tagebuch aus Huaxi, dem reichsten Dorf Chinas.
Ich hoffe, Ihnen einen kleinen Einblick in diesen faszinierenden Ort gegeben zu haben und verbleibe mit freundlichen Grüßen aus Huaxi,
Simon Gisler