In China gilt das so materialistische wie stolze Sprichwort einer sich entwickelnden Gesellschaft auf dem Weg nach oben: „Lieber weinend in einem BMW, als fröhlich auf einem Fahrrad". Ein Auto, das lange nur Unternehmern und Parteifunktionären vorbehalten war, schien ein unglaublicher, erstrebenswerter Luxus. Heute besitzt fast jeder ein Auto, die Luft ist verpestet und Limousine, Ferrari und SUV quälen sich Stoßstange an Stoßstange im Schneckentempo durch Beijings Innenstadt. Auch die öffentlichen Verkehrsmittel sind überlastet. Zu den Stoßzeiten drücken sich die Menschen in der U-Bahn beim Ein-und Aussteigen fast zu Tode.
Doch die Lösung wartet schon an der nächsten Straßenecke. Über Nacht so schien es, schossen im vergangenen Jahr die einst so verachteten Fahrräder wie Pilze aus dem Boden. In bunten Farben, zur allgemeinen und spontanen Verfügung, ohne große Investitionen oder Verpflichtungen.
„Ich habe gerade versucht, mich per Handy zu registrieren. Es hat nur drei Minuten gekostet und jetzt ist das Schloss schon auf und ich darf fahren. Sehr praktisch."
Die Zeit war reif für Bikesharing - das gemeinschaftliche Nutzen von Fahrrädern. Der Gedanke dahinter: An U-Bahnhaltestellen und viel frequentierten Orten stehen Fahrräder bereit, die man sich nach vorheriger Registrierung per Handy ausleihen darf und mit denen man zum Beispiel die restlichen Meter bis zum Arbeitsplatz zurücklegen kann. Abschließen, stehen lassen, fertig. Eine feine Sache. Und echt billig. Bei Mobike kostet eine Fahrt je nach Fahrradart 5 Mao oder 1 Kuai, also schlappe 7 bzw. 14 Euro-Cent. Gezahlt wird per Scann mittels Handyapp. Die trackt auch die gefahrene Strecke und präsentiert allen Statistikliebhabern auch noch die verbrannten Kalorien und den angenommenen Wert des nicht emittierten CO2.
Natürlich hat die Sache einen Haken: Die Nutzer. Die halten sich nämlich nicht immer an die Regeln.
„Das ist ein gutes Geschäftsmodell und macht die Menschen umweltbewusster. Aber viele stellen die Räder willkürlich ab, irgendwo, wo sie gar nicht hingehören."
Die einen parken ihr für wenig Geld geliehenes Fahrrad im eigenen Keller. Aus Fürsorglichkeit selbstverständlich. Andere ketten es mit einem eigenen Schloss an fremde Zäune, damit auch ja niemand anders Hand an den hübschen Drahtesel legen kann. Wieder andere sorgen dafür, dass es für die Fahrradverleiher spannend bleibt, aus welcher verwinkelten Ecke und unter welchem Busch sie ihre Räder diesmal hervorziehen müssen, um sie der Allgemeinheit wieder zugänglich zu machen.
Dank des Wettstreits der Verleihunternehmen - die Platzhirsche sind das silber-orangene Mobike und das quietschgelbe ofo, dessen Schriftbild ein Fahrrad imitiert - und der Resonanz der Beijinger herrscht mittlerweile Chaos auf Beijings Bürgersteigen. An manchen Plätzen und U-Bahn-Eingängen fungiert jeder freie Quadratmeter als wilder Fahrradabstellplatz. Fällt ein Rad um, greift der Dominoeffekt. Für Fußgänger und andere in Beijing genutzte Gefährte, die auch gerne mal auf dem Gehsteig unterwegs sind, bleibt da kein Platz mehr.
Doch die Beijinger sind ein findiges Völkchen: Selbsternannte Fahrradjäger schwärmen des Nachts aus und sammeln verloren gegangene Räder wieder ein, knacken Fremdschlösser und wagen sich in dunkle Keller.
„Das Fahrrad hier ist falsch geparkt. Ich melde das gleich mit dem Handy. Ich scanne den Code und mache ein Foto von dem falsch geparkten Fahrrad als Beweismittel."
Und gegen zugeparkte Gehwege gibt es auch eine Lösung: Wie beim großen Bruder, dem Auto, gibt es nun an besonders betroffenen U-Bahnhaltestellen Parkeinweiser, die den Strom der Fahrräder koordinieren und sagen, wo und wie das Fahrrad geparkt werden darf. Arbeitsplätze geschaffen, Gehwege frei, alle happy. Doch da das so harmlos und ökologisch daherkommende Bikesharing offensichtlich die anarchischen Tendenzen mancher Nutzer weckt, dürfte auch diese Geschichte demnächst seine Fortsetzung finden.
Svenja Schmidt