Tianjin und ein verstecktes Stück Österreich

2016-06-14 10:36:49

In der Zeit der Österreichisch-Ungarischen Monarchie hatte der Staat eine ganz besondere Verbindung zu China. Die Doppelmonarchie besaß nur eine einzige außereuropäische Konzession – und zwar von 1902 bis 1917 in der chinesischen Stadt Tianjin. Damals lebten viele Kaufleute, Techniker, Ingenieure und Akademiker aus verschiedenen westlichen Staaten in der Hafenstadt, darunter auch einige Österreicher. Bis heute sind die Spuren jener Zeit in Tianjin sichtbar.

Wudadao (Foto von VCG)

Bei einer Fahrt mit der Pferdekutsche durch das Stadtzentrum von Tianjin und einem Blick auf grüne, schattige Gärten und europäische Villen kann man schon einmal vergessen, dass man sich in China befindet. Die Hafenstadt ist wie ein architektonisches Museum mit Gebäuden im britischen, italienischen oder deutschen Baustil.

Im berühmten Bezirk Wudadao stehen über 2.000 dieser Gebäude. Die meisten von ihnen sind über 100 Jahre alt. Die zahlreichen westlichen Gebäude in einer so wichtigen chinesischen Hafenstadt gehen auf die ereignisreiche Geschichte dieses Ortes zurück.

Tianjin war einst eine ganz gewöhnliche chinesische Kleinstadt. Ihre Lage am Meer hat sie im 19. Jahrhundert jedoch zu einem Ziel für Seemächte aus dem Westen gemacht. Infolge der Niederlage Chinas im Zweiten Opiumkrieg (1856-1860) errichteten zunächst Großbritannien und Frankreich zwei Konzessionsgebiete südöstlich der Stadt, um Nordchina für den internationalen Handel zu erschließen. Aufgrund ihrer wachsenden Bedeutung als wichtiges Handels- und Kommunikationszentrum unweit Beijings folgten weitere Kolonialmächte, die ihre Konzessionen entlang des Haihe-Flusses errichteten. Nach der Unterstützung bei der Niederschlagung des Boxeraufstands, erhielt Österreich-Ungarn 1902 ebenfalls ein Konzessionsgebiet.

Die bis 1917 existierende, 60 Hektar umfassende Konzession lag am östlichen Ufer des Haihe-Flusses und besaß 40.000 Einwohner. Verwaltet wurde sie von einem Konsul. Das ehemalige Konsulat Österreich-Ungarns am Ufer des Haihe ist heute ein angesehenes Restaurant. In dem ehemaligen Konzessionsgebiet sind außerdem einige Häuser berühmter Tianjiner Einwohner bis heute erhalten, unter anderem das Haus von Yuan Shikai, einem berühmten Militärführer und Politiker während der späten Qing-Dynastie und der Zeit der Republik China.

Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts lebten jedoch auch viele herausragende Personen aus dem Westen in Tianjin. Ihr Einfluss zeigt sich bis heute und kann im Modern Tianjin und World Museum näher betrachtet werden. Hang Ying, Schriftstellerin und die Gründerin des Museums, erklärt:

„In der jüngeren Vergangenheit haben viele Österreicher in Tianjin gelebt. Sehr berühmt ist zum Beispiel der Arzt Richard Frey, der während des chinesisch-japanischen Kriegs große Beiträge geleistet hat. Der Architekt Rolf Geyling ist auch erwähnenswert. Sein Talent zeigt sich in Tianjin sehr deutlich. Bis heute sind viele seiner Bauwerke auf den Straßen zu sehen."

Während er als Kriegsgefangener des Ersten Weltkriegs in Sibirien festgehalten wurde, gelang Geyling 1920 die Flucht nach China. Dort wurde sein Talent von der damaligen Regierung entdeckt. Der Architekt aus Wien hat viele Bauwerke in China hinterlassen, allein in Tianjin sind es über 200. Anhand der damaligen Entwürfe lassen sich seine Werke noch heute nachvollziehen. Sie verbinden häufig Elemente des italienischen, englischen, deutschen und chinesischen Stils.

Auch in der heutigen Zeit sind im Bezirk Wudadao nur wenige Autos auf den von grünen Bäumen und farbenfrohen Blumen gesäumten Straßen zu sehen. Viele der Gebäude beherbergen inzwischen Kindergärten, Grundschulen, Büros, Hotels, Restaurants und Cafés. Viele Leute nutzen das Viertel, um dem hektischen Alltag bei einem Spaziergang zu entfliehen. Hang Ying erklärt:

„Die Konzessionszeit ist für das chinesische Volk ein entwürdigender Abschnitt der jüngeren Vergangenheit. Aber für den Austausch von westlicher und chinesischer Kultur war Tianjin ein Treffpunkt beider Zivilisationen. In ihrer Modernisierung wurde die Stadt von den westlichen Industrienationen beeinflusst. Der Charakter ihrer Einwohner wurde in dieser Atmosphäre gebildet. Die Menschen hier sind offen, fröhlich, tolerant und nicht so voreingenommen wie an anderen Orten. Qualifiziertes Personal kann hier sein Talent in allen Bereichen zeigen. Ich glaube, das wurde von der einzigartigen Gesellschaftsform jener Zeit beeinflusst."

Interviewt von: Liu Xinyue

Gesprochen von: Zhang Chen

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