China ist ein Land der Déjà-vu-Erlebnisse. In Beijing fühlt man sich manchenorts wie in Berlin – Kreuzberger Nächte kann man auch in Chinas Landeshauptstadt erleben. Hainan erinnert an Sylt. Wer Strände und Luxusautos liebt, kommt hier wie dort auf seine Kosten. Und sicherlich gibt es auch in China einen Platz für Spreewald-Feeling oder Schwarzwaldromantik. Alles ist möglich.
Chinas Natur ist sehr vielfältig, das Land ist so groß, dass es mehrere Klimazonen hat. Sogar das, was man kulinarisch eindeutig in Europa verorten würde, existiert sehr oft auch in China und zwar nicht als Kopie, sondern als eigenständige Variante, die oft noch älter ist als das vermeintliche Original. Es ist längst bekannt, dass die Nudel nicht zuerst ein Italiener auf der Gabel hatte, sondern ein Chinese zwischen den Stäbchen, vermutlich vor mehr als 4000 Jahren, wie es Funde nahelegen.
Der Österreicher, der ganz stolz auf seine Stelze ist, bzw. der Bayer, der seine Schweinshaxn über alles liebt, sie müssen beide jetzt ganz tapfer sein, denn dieses vor allem als Eisbein bekannte und gerne mit Sauerkraut servierte Gericht gibt es auch in China. Womit wir in Chinas Venedigs wären. Ja, ich rede nicht von der norditalienischen Stadt, die den Beinamen La Serenissima trägt, was „die Durchlauchtigste" bedeutet, sondern – und das im Plural – von den nicht weniger majestätischen Wasserstädten im Reich der Mitte. Aus Zeitgründen werde ich mich auf nur zwei „Venedigs", und zwar im Großraum Shanghai, beschränken.
Zhujiajiao (Zhūjiājiǎo) – übersetzt „Landzunge der Familie Zhu" – ist eine Großgemeinde im Stadtbezirk Qingpu von Shanghai. Diese Wasserstadt ist tatsächlich unter dem Namen „Venedig Shanghais" weit bekannt. Sie misst 138 Quadratkilometer und hat etwa 66.000 Einwohner. Venedig hat mit 261.000 Venezianern etwa viermal so viele Einwohner und ist mit einer Fläche von rund 415 Quadratkilometer circa dreimal so groß.
Die chinesische Wasserstadt Zhujiajiao existiert bereits seit der Zeit der Drei Reiche (208 bis 280). Unter Kaiser Zhu Yijun, der während der Ming-Dynastie von 1572 bis 1620 regierte, wurde der Marktflecken zu einem befestigten Ort mit Stadtmauer ausgebaut. Aufgrund seiner geographischen Lage zwischen der Seidenstadt Suzhou und den großen Städten der Provinz Zhejiang entwickelte sich die Wasserstadt rasch zu einem Zentrum des Stoffhandels. Die Wirtschaft florierte im 17. Jahrhundert dann noch mehr wegen des erfolgreichen Reisanbaus in der Gegend. Die Bevölkerung wuchs. Heute ist der Ort vor allem vom Tourismus geprägt.
Eine Wasserstadt ohne Boote ist wie ein Bergdorf ohne Wanderpfade. Und natürlich kann man sich auch in Zhujiajiao die Altstadt vom Wasserweg aus ansehen. Die Holzboote erinnern an die venezianischen Gondeln, allerdings sind sie meist geräumiger und überdacht.
Außer Dienst: Eine Gondel.
Bautzen und das italienische San Gimignano sind für ihre Türme berühmt, Zhujiajiao und Venedig für ihre Brücken. Allerdings verblassen rein quantitativ sogar Venedigs 450 Brücken vor den 2500 Hamburgs.
Zhujiajiao ist eine Wasserstadt mit vielen Brücken. Wer wohl die alten Schuhe auf die Hecke gelegt hat?
Das „Venedig Shanghais" hat neben Sehenswürdigkeiten wie dem alten Postgebäude Kunsthandwerk zu bieten und jede Menge Leckereien, von Muscheln bis zu in Bambusblätter eingewickeltes „Eisbein", das "Ti Pang" genannt wird.
„Eisbein" wird nicht nur in Deutschland gerne gegessen. Hier wird mit "Ti Pang" eine ähnliche Spezialität angeboten.
In chinesischen Wasserstädten kann man oft auch die moderne Version eines buddhistischen Tier-Rettungs-Rituals sehen: Menschen kaufen sich Tüten mit lebendigen Goldfischen und schütten diese in den Fluss und eine ungewisse Zukunft.
Goldfische in Tüten für ein Tier-Rettungs-Ritual
Früher wurden Tiere tatsächlich gerettet, etwa vor der Schlachtung. Das blieb nicht ohne Folgen. War es so weit, dass die tierlieben Mönche wieder mit Barem nahten, wurde der Preis schnell erhöht. Heute werden für schnöde Barmherzigkeitssimulationen extra Tiere gezüchtet.
Wird dieses sogenannte Fang-Sheng-Ritual mit gebietsfremden Tieren durchgeführt, kann das sogar fatale Auswirkungen auf die heimische Flora und Fauna haben. Aber das ist eine andere Geschichte.
Die kleinere Wasserstadt Xitang wird hauptsächlich von chinesischen Touristen besucht.
Eine andere Wasserstadt heißt Xitang. Auch bei ihr handelt es sich um eine Großgemeinde. Sie liegt etwa 140 Kilometer südwestlich von Shanghai entfernt im Kreis Jiashan der bezirksfreien Stadt Jiaxing in der Provinz Zhejiang. Sie wird hauptsächlich von Chinesen besucht. Zu den Attraktionen gehören hier neben den gut 100 Brücken eine für die Touristen zugängliche Knopffabrik sowie etliche Cafés und Restaurants mit fantastischem Blick aufs Wasser.
Bemerkenswert ist, dass auf den Kanälen Xitangs Fischerei mit Hilfe gezähmter Kormorane betrieben wird.
Die mit 83 Quadratkilometern und etwa 92.000 Einwohnern eher kleinere Wasserstadt ist auch eine beliebte Kulisse für das Posieren in historischen Kostümen.
Beliebt: In Kostümen vor historischer Kulisse posieren.
Die Touristen können hier auch alte Häuser besichtigen, mit Pfeilen auf Ballons werfen, sich malen lassen oder einfach das Leben für einen ganzen Tag schön finden.
Text und Fotos: Nils Bergemann