Felsmassiv im Grünen: Der Maijishan
Der Berg befindet sich 45 Kilometer südöstlich der Stadt Tianshui in der chinesischen Provinz Gansu. Bis zum Fuß des 142 Meter hohen Bergmassivs müssen wir noch ein paar Dutzend Höhenmeter überwinden. Der Weg führt an etlichen Verkaufsständen vorbei, die aber nicht groß stören. Die Tourismus-Angebote sind hier sowieso erfreulich unaufdringlich organisiert.
Besonders oft werden an den Ständen Holzschnitzereien angeboten, zum Beispiel in Form von Delphinen und Eichhörnchen. Spielzeug aus Holz gibt es auch: Lokomotiven, Feuerwehrautos, Betonmischer, Kräne, Bagger, Wasserräder und alles, was das Kinderherz noch so begehrt: Sogar einen Holz-Panzer sehe ich.
Verkaufsstände am Wegesrand: Hier einer mit Holzspielzeug
Ein sitzender Dackel aus Stein lächelt mich auch an. Mehr noch als meine Vernunft, verhindert das Tempo der Reisegruppe, dass ich mir ein paar Staubfänger kaufe.
An den Ständen mit Nüssen, Trockenfrüchten und Gewürzen freut sich eine Verkäuferin schon auf unsere Gruppe, jedenfalls hebt sie die Hände und ruft etwas.
Nüsse, Gewürze und eine fröhliche Verkäuferin
Als wir etwa am Fuße des Berges ankommen, sehen wir rechts des Weges auf einem Platz einen großen Kamerakran stehen, der für spektakuläre Aufnahmen aus bis zu zehn Meter Höhe taugt. Eine grandiose Kulisse ist vorhanden: Auf den Felsen aus rötlichem Sandstein laufen wir direkt zu. Der eindrucksvolle Kamerakran muss übrigens von einem Kamera-Operator, einem Schwenker und einem Dolly-Fahrer bedient werden. Bei fester Kranposition wird der Fahrer nicht benötigt. Ich weiß das, weil ich „Irgendwas mit Medien" studiert habe.
Vor einem kleinen Informationshäuschen, das auch englischsprachige Flyer anbietet, sehe ich einen „Taschenhund": Der putzige Mini-Pudel lugt aus dem Business-Rucksack eines Mannes heraus und freut sich vielleicht auch schon auf den guten Ausblick vom Maijshan.
Bergwanderung mit Hund
Die Maijishan-Grotten sind buddhistische Höhlentempel aus der Zeit der Nördlichen Wei- bis Qing-Dynastie. Sie wurden in Qinzhou, das heute Tianshui heißt, errichtet. Qinzhou war eine bedeutende Stadt an der alten Seidenstraße. Die Kulturschätze in den Grotten stammen aus der zentralen Ebenen Chinas, der Südlichen Dynastie, aus Indien und auch aus den westlichen Regionen. Diese kulturellen Elemente haben einen umfangreichen Austausch zwischen buddhistischer Kunst und verschiedenen Kulturen ermöglicht.
Um uns selbst mit den Kulturschätzen auseinandersetzen zu können, laufen wir zunächst eine gewöhnliche nicht sehr steile Steintreppe Richtung Berg hinauf. Dort angekommen, teilen wir uns auf. Bald verlasse ich meine Minigruppe, um in meinem eigenen Tempo weiterzulaufen. So kann ich mir alles ansehen, was ich will und solange ich will. Die Auswahl ist theoretisch sehr groß: Die 221 Grotten beherbergen 194 Nischen und mehr als 7.200 realistisch dargestellte buddhistische Skulpturen. Die kleinste misst gerade einmal zehn Zentimeter, die größte 16 Meter. Besonders faszinierend sind die gigantischen Bodhisattva-Skulpturen. Im Buddhismus sind Bodhisattva Erleuchtungswesen, die nach höchster Erkenntnis streben. Auf vielen Figuren sind verblasste Farben oder Reste von Farben zu sehen. Inwieweit die Skulpturen behutsam restauriert wurden, weiß ich nicht.
Skulptur mit Farbresten
Der allergrößte Teil der Figuren ist aus Ton, welcher für bessere Haltbarkeit mit einem Bindemittel versehen wurde. Die wenigen Steinskulpturen sind zumeist aus Sandstein „geschnitzt" und zwar auf hervorragende Weise. Jede Figur für sich hätte einen Ehrenplatz einer Museumsausstellung verdient. Die Herkunft des Sandsteins ist unbekannt und bislang weiß man auch nicht, wo die Statuen hergestellt – und wie sie in den Höhlen aufgebaut wurden. Spannende Rätsel gibt es also nicht nur in ägyptischen Pyramiden, sondern auch in diesem Maijishan (麦积山), der nach seiner einem Weizenstapel ähnelnden Form benannt wurde: Mai (麦) steht für Weizen oder Korn allgemein und Ji (积) für Stapel oder Hügel. Shan (山) bedeutet Berg.
Einige Höhlen entstanden in der späten Zeit der Sechzehnkönigreiche oder vielleicht sogar früher. Bevor der Buddhismus nach China kam, wurden sie womöglich als lokale Schreine benutzt, um Vorfahren oder Naturgötter anzubeten. Die Skulpturen stammen aus der Nördlichen und der Westlichen Wei- sowie der Nördlichen Zhou-Dynastie, der Sui- und der Tang-Dynastie. Und auch während der Fünf Dynastien sowie zur Zeit der Dynastien Song, Yuan, Ming und Qing wurden Werke geschaffen, die man noch heute im „Weizenstapelberg" besichtigen kann.
Gerade für die vielen Werke aus der Frühzeit der nördlichen Dynastien sind die Grotten weltberühmt. Die ältesten Skulpturen sind mehr als 1000 Jahre alt. Die von hoher Bildhauerkunst zeugenden Figuren sind nicht nur aus archäologischer und religionshistorischer Sicht sehr wichtig, sondern auch für die Folklore.
Eine übermanngroße Figur von erlesener Bildhauerkunst
Natürlich kann man als Tourist nur einen Bruchteil davon sehen. Zu den Kulturschätzen des Berges gehören auch Wandmalereien auf einer Fläche von mehr als 1000 Quadratmetern.
Direkt am Felsmassiv führen Treppen hinauf. Die Stufen sind aus Stahl und das Geländer hat eine beruhigende Höhe. Dennoch ist eine Besichtigung nichts für Menschen mit Höhenangst und Neigung zu Schwindelgefühlen.
Toller Ausblick versus Höhenangst: Treppensteigen in schwindelerregenden Höhen
Ich habe mich in den vergangenen Jahren so oft mit schwindelerregenden Ausflugszielen konfrontiert, sodass ich inzwischen halbwegs mit hohen Höhen zurechtkomme, sofern es sich nicht um wackelnde Aussichtstürme aus Holz handelt. Also kann ich das Maijishan-Erlebnis genießen. An der Felswand gibt es längere Stege an Stellen, wo sich interessante Nischen, Grotten und Skulpturen befinden. Die Steinfiguren stehen meist in den Höhlen und hinter Gittern, damit sie vor „zu starkem Interesse" geschützt sind. Da sich die Höhlen an einem Steg nicht alle auf gleicher Höhe befinden, gibt es zum Teil schräge Holzleitern für die Besucher, damit diese trotzdem reingucken können. Immer wieder sieht man auch Mamas oder Papas, die ihre Kinder hochheben.
Bergwandern mit Mutti oder frühkindliche Kulturerziehung?
Der Maijishan liegt nahe der Ost-West-Route, die Xi'an mit Lanzhou und schließlich Dunhuang verbindet, sowie in der Nähe der Route, die nach Süden abzweigt und Xi'an mit Chengdu in Sichuan und mit Regionen bis hin nach Indien verbindet. Die Figuren aus dem 6. Jahrhundert, welche offenbar indische und südasiatische Merkmale aufweisen, sind vielleicht über diese Nord-Süd-Routen nach Norden zum „Weizenstapelberg" gelangt. Der früheste künstlerische Einfluss kam jedoch aus dem Nordwesten, durch Zentralasien entlang der Seidenstraße. Später, während der Song- und Ming-Dynastie, als die Höhlen renoviert und repariert wurden, kamen die Einflüsse aus Zentral- und Ostchina. Entsprechend chinesischer sehen diese Skulpturen aus.
Vor einer übermanngroßen Statue treffe ich auf zwei Kunststudenten, die den reichen Fundus des Berges nutzen, um Skizzen anzufertigen. Beide sind beeindruckt.
Qual der Wahl: Kunststudenten können Hunderte von Skulpturen abmalen.
Beeindruckend sind auch die Opfergaben. Da offenbar laut Meinung vieler Gläubiger, von den Gottheiten oder Kultfiguren auch Geld akzeptiert wird, finden sich in vielen kleinen und manchmal offen zugänglichen Nischen ¬Ein- und Halb-Yuan-Scheine, aber auch wertvollere Banknoten.
Moderne Opfergaben
Wer mit dem schnöden Mammon buddhistische Heilige anbeten will, muss sich jedoch bei den mit feinmaschigem Gitter versehenen Nischen mehr anstrengen: Der Schein muss eng zusammengerollt werden und er sollte dann mit einem kräftigen Fingerschnippen durchs Gitter befördert werden. Die frischen Scheine erkennt man daran, dass sie sich noch kaum wieder entrollt haben.
Geldscheine hinter Gittern
Wenn man den Maijishan besichtigt, sollte man auch ein Auge für die wunderschöne grüne Berglandschaft haben. Der Ausblick ist fantastisch.
Besucher genießen den Ausblick
Maijishan ist ein grandioses Freilichtmuseum, ein Beispiel für Felsarchitektur, ein Ort der Besinnung und des Kraftschöpfens. Für einige Menschen ist es sicherlich auch ein spiritueller Ort.
Berg mit vielen Gesichtern
Die Grotten – man kann sie ebenso als Höhlen bezeichnen – wurden erstmals in den Jahren 1952 und 1953 von chinesischen Archäologen aus Beijing systematisch untersucht. Die Wissenschaftler entwickelten dabei ein bis heute gültiges System zur Nummerierung. Seit 1961 stehen die Grotten, die sich in einer Höhe von 30 bis 80 Metern in den Felswänden des Berges befinden, auf der Denkmalliste der Volksrepublik China in Gansu.
Der Berg verbirgt natürlich noch viel mehr Geheimnisse und wartet darauf den Touristen, die zuhören und genau hingucken können, leise seine Geschichten aus längst vergangenen Zeiten zu erzählen. Man kann sicherlich viel nachlesen, es begreifen kann man aber nur, wenn man oben die frische Bergluft einatmet und den Fels mit den eigenen Händen berührt. Im Deutschen wird jemand, der erfahren ist und viel weiß, nicht ohne Grund als „bewandert" bezeichnet. Die Bergwanderung auf dem Maijishan macht sicherlich ein kleines bisschen weiser.
Natur, Kultur und Spiritualität
Der Maijishan-Tempelkomplex wurde sehr verdient mit fünf Mal A bewertet. 5A stellt die höchste von chinesischen Behörden vergebene Note für eine Tourismusattraktion dar.
Text und Fotos: Nils Bergemann