Zuckerschock durch Niedlichkeitswahn
Wenn sogar die Terroristen auf amtlichen Warnhinweisen wie niedliche Comic-Figuren aussehen, dann ist man in Asien. Nicht nur Japan und Südkorea sind im Niedlichkeitswahn, nein, China hat es auch schwer erwischt. Von einer Pandemie zu sprechen, wäre stark untertrieben.
Das weibliche Geschlecht ist definitiv stärker betroffen, obschon es ein paar Jungs und junge Männer gibt, die lieber niedlich als stark sind und lieber an ihren Selfie-Skills arbeiten als an ihrem Oberkörper.
Runde Brillen mit sehr großen Gläsern gehören zu den unverzichtbaren Utensilien, die eine junge Frau braucht, die niedlich bzw. kĕài sein will. Mit so einer Brille sieht die junge Dame nicht nur wie Puck die Stubenfliege aus, sondern auch naiv und auf eine süße Weise verpeilt, die womöglich nicht nur Beschützerinstinkte beim männlichen Geschlecht auslöst.
T-Shirts und Pullover mit niedlichen Tiermotiven oder aufgenähten beweglichen Hasenohren oder Mausgesichtern gehören auch in den Kleiderschrank der Niedlichen. Kapuzenpullis mit Tierohren serienmäßig sind beliebt und gerne dürfen die Kleidungsstücke etwas zu groß sein. Das lässt die Trägerin kleiner und unbeholfener erscheinen. Zudem hat dieser Trick schließlich schon bei der Brille funktioniert.
Mit hoher Stimme zu sprechen, wie eine Bewohnerin Entenhausens, ist auch niedlich, nur, dass dort garantiert nicht so viel gekichert wird. Daisy würde sich auch nicht von Donald ständig vor Blumen oder historischen Gebäuden fotografieren lassen. Apropos Blumen: Zur Zeit der Kirschblüte werden wohl in allen chinesischen Parks mit Kirschbäumen Plastikringe mit künstlichen Kirschblüten angeboten. Aber warum zum Donnerwetter nochmal gibt es überhaupt Stände mit diesem minderwertigen Kitsch? Ja, weil er tatsächlich gekauft wird! Die falsche Blütenpracht wird gekauft, um sie vom Park bis nach Hause zu tragen.
Zu den Niedlichkeitsregeln gehört es auch, dass die Fotografierte Zeige- und Mittelfinger zum Victory-Zeichen spreizt. Dabei hat in China längst eine Bedeutungsverschiebung dieses Zeichens stattgefunden – hin zu: „Hey, ich bin ja so süß!"
Die Anime- und Cosplaykultur, zu der seit den späten 1980er Jahren Verkleidungen wie in den Manga-Vorbildern gehören, hat die Niedlichkeitsbewegung natürlich extrem beeinflusst. Viele Teilnehmerinnen schafften es, das Maus- oder Hasenhafte einfach ungestraft mit in den Alltag zu retten und so konservative Gemüter in den Wahnsinn zu treiben.
Die menschlichen Panda-Babys wollen natürlich auch virtuell entzücken und versüßen ihre Social-Media-Auftritte dementsprechend. In den persönlichen Fotos bei dem Messenger-Dienst WeChat finden sich ganz viele nachbearbeitete Bilder mit Kätzchennäschen, Hasenöhrchen, Riesenaugen und vielen Sternchen. Kleine Videofilmchen in Endlosschleife, wo die Niedliche zum Beispiel süß hochguckt oder einen Augenaufschlag a la Marylin Monroe versucht, sind auch beliebt.
Die Verniedlichung kann aber auch nach hinten losgehen, zum Beispiel, wenn die Süße schon 35 ist, aber nur von Zwölfjährigen angesprochen wird.
Und vielleicht gibt es Touristen, die angesichts der lustigen Plakate damit rechnen, dass bei einem Ausfall der Ampeln in China Comicfiguren den Verkehr regeln.