EU-Sanktionsbeschlüsse gegen China: Soll die EU doch der „Wurmfortsatz“ der USA sein?

2021-03-25 15:59:36

Dr. Michael Borchmann

Dr. Michael Borchmann

Der „Wurmfortsatz“ ist eine kleine wurmförmige Verlängerung des menschlichen Blinddarms, ein Teil des Organismus‘, den man im medizinischen Bereich bislang als unbedeutend angesehen hat. Dementsprechend bedeutet „Wurmfortsatz“ im allgemeinen Sprachgebrauch ein funktionsloses, unbedeutendes Anhängsel einer dominierenden Sache. Und dieses Wort „Wurmfortsatz“ ist mir gerade in diesen Wochen zweimal mit Bezug auf die Dreiecksbeziehung EU, China und USA begegnet. So verfolgte ich Anfang März eine Zoomkonferenz, deren Gegenstand das Ende Dezember 2020 abgeschlossene Investitionsabkommen zwischen China und der EU war. Hier war Michael Hager, Kabinettschef des EU-Vizepräsidenten Valdis Dombrovskis, vom Vertreter einer notorisch china-unfreundlichen deutschen Tageszeitung gefragt worden, weshalb die EU vor Abschluss des Abkommens nicht auf den Amtsantritt des US-Präsidenten Biden und eine Abstimmung mit ihm gewartet habe. Seine Antwort: „Die EU ist nicht der Wurmfortsatz der USA.“ Und gerade zu Beginn dieser Woche sprach in einem Kommentar der Zeitung „Handelsblatt“ Stefan Baron (früherer Chefredakteur der "Wirtschaftswoche" und Kommunikationschef der Deutschen Bank) davon, dass Amerikas und Europas Interessen nicht mehr dieselben seien. Anders als für die USA stelle China für den europäischen Kontinent weniger eine Bedrohung als eine Chance dar. Eine Bedrohung resultiere für Europa dagegen aus der Weigerung Washingtons, seine globale Hegemoniestellung aufzugeben, und dem Versuch, Chinas weiteren Aufstieg zu konterkarieren. Europa müsse vielmehr seine eigenen Interessen verfolgen, seinen eigenen Weg gehen und sich von Amerika emanzipieren. Wer sich davor scheue, könne sich den alten Kontinent offenbar nur noch als Wurmfortsatz Washingtons vorstellen! So wohltuend zutreffend und sachlich diese Worte aus jeweils berufenem Munde auch waren, die dann von den EU-Außenministern ebenfalls zu Wochenbeginn beschlossenen Sanktionsmaßnahmen gegen China waren ein Schlag ins Gesicht all derjenigen, denen an einer harmonischen Fortsetzung der äußerst fruchtbaren Beziehungen zu China gelegen ist. Und diese Aktion geschah gewissermaßen in folgsamem Gleichschritt mit den USA, Kanada und dem Vereinigten Königreich. Der nicht zur „Mainstream-Front“ zählende und unabhängige deutsche Informationsdienst Telepolis vermeldete: „Das Vorgehen der EU-Länder gegen China dürfte mit den USA abgesprochen sein, die ebenfalls Sanktionen verhängten. Ihr Außenminister Antony Blinken reiste gestern nach Brüssel, wo er heute und morgen am Treffen der Nato-Außenminister teilnimmt.“

Die EU-Außenminister begründen ihre Sanktionen mit Behauptung, Uiguren in Xinjiang würden menschenrechtswidrig überwacht und in großer Zahl längere Zeit in Lagern festgehalten. China dagegen weist daraufhin, diese Maßnahmen seien zum Schutz von Terroranschlägen nötig, und bei den als Lager kritisierten Einrichtungen handle es sich um Aufklärungs- und Ausbildungszentren, in denen man der Gefahr des Dschihadismus durch Bildung und wirtschaftliche Chancen begegne. Und dieser Argumentation kann man nur beipflichten, wenn man die grauenvollen Bilder von uigurischen Terroranschlägen in China, der brutalen Angriffe auf Han-Chinesen in Xinjiang einmal gesehen hat. Wie absurd die – nach meiner Überzeugung gezielt von US-Seite gesteuerten – Anfeindungen gegen China hier sind, wurde mir auch durch ein aktuelles Interview des unabhängigen französischen Schriftstellers Maxime Vivas bestätigt. Vivas spricht von einer Flut von erfundenen Misshandlungen an Uiguren durch chinesische Behörden, von einer Vielzahl gefälschter Fotos über angeblich misshandelte Uiguren und erinnert auch daran: China habe terroristische Anschläge erlebt, bei denen Polizisten, Touristen, Spaziergänger, Reisende, Arbeiter, Männer, Frauen getötet wurden. Schließlich legt Vivas die Rolle der CIA hinter der Uiguren-Kampagne offen, er quantifiziert auf den Dollar genau die Summen, die von einer unechten NGO (einer CIA-Tarnformation) an Organisationen gezahlt werden, die in der Uiguren-Frage agitieren. Seine Schlussfolgerung: All dies verfolgten die USA mit der Zielsetzung, Chinas Fortschritt zu verlangsamen und das globale Projekt einer Neuen Seidenstraße zu vereiteln. Wie breit angelegt das Spektrum der Störaktionen gegen China ist, zeigt endlich auch der Hinweis bei dem bereits genannten Dienst Telepolis: Obwohl die Uiguren ihre Zahl in den letzten 50 Jahren nahezu hätten verdoppeln können, ihre Sprache in den Schulen gelehrt werde, und es uigurische Zeitungen, Bücher und Rundfunksender gebe, seien sie in die Gruppe der „bedrohten Völker" aufgenommen worden!

Die chinesische Regierung reagierte jedenfalls zügig und konsequent auf den wahrlich „unfreundlichen Akt“ der EU. Man beschloss, zehn Persönlichkeiten und vier Institutionen auf Seite der EU zu sanktionieren, „die Chinas Souveränität und Interessen schwer schädigen und böswillig Lügen und Desinformationen verbreiten.“ Die Sanktionsbegründung beruhe auf nichts als Lügen und Desinformation; missachte und verdrehe Tatsachen, mische sich grob in die inneren Angelegenheiten Chinas ein, verstoße gegen das Völkerrecht und die grundlegenden Normen der internationalen Beziehungen und untergrabe die Beziehungen zwischen China und der EU schwer. Die chinesische Regierung sei fest entschlossen, die nationale Souveränität, Sicherheit und Entwicklungsinteressen zu schützen. Und in der Tat, hier wird man erneut an Worte des zitierten französischen Schriftstellers Vivas erinnert: „Darüber hinaus hat die Geschichte der Kolonialisierung im kollektiven Unterbewusstsein vieler europäischer Länder die latente Überzeugung zurückgelassen, dass es so etwas wie eine weiße Vorherrschaft gibt.“ Nichts Anderes ist es nämlich, wenn man die eigene politische Ordnung zum Maßstab für alle Teile der Welt machen will. Und nichts Anderes ist es auch, wenn der große Drahtzieher der Vorwürfe angeblicher Menschenrechtsverletzungen in China ein Land ist, das durch einen tatsächlichen Genozid an der indigenen Bevölkerung entstanden ist, ein Land, dem etwa in Vietnam ein grausamer Genozid vorzuwerfen ist.

Was jedenfalls die chinesischen Gegenmaßnahmen betrifft, habe ich doch mit einer Genugtuung die eine oder andere hiesige Reaktion aus dem Netz wahrgenommen. Als eines der ersten Medien hat das Nachrichtenmagazin Focus hierüber berichtet. Und der allererste Kommentar aus dem Netz lautete: „‘So du mir, so ich dir‘ eine alte Redensart. Und jetzt heult Europa, weil China zurück gehauen hat. Passt bloß auf, dass China gegenüber Europa nicht die Grenzen komplett zumacht.“ Mir selbst kam dazu ein bekanntes Zitat aus der Luther-Bibel in den Sinn, das die Sachlage genau trifft: „Und wer seinen Nächsten verletzt, dem soll man tun, wie er getan hat, Schade um Schade, Auge um Auge, Zahn um Zahn; wie er hat einen Menschen verletzt, so soll man ihm wieder tun" (Lutherbibel 1912, 3.Mo 24, 19-20). So weit reichte die Einsicht der von den chinesischen Gegenmaßnahmen Betroffenen allerdings nicht. Diese mangelnde Einsicht reichte bis hin in Außenministerien, die Chinas Reaktion als unangemessen bezeichneten. Schon skurril zu nennen ist die Reaktion eines von den Sanktionen betroffenen Europaabgeordneten, der immer in allererster Linie steht, wenn es um massive und derbe Hetze gegen China geht: Ausgerechnet er warf China ein „Vorgehen mit dem Holzhammer“ vor; ausgerechnet er hatte die EU-Sanktionen mit den Worten begrüßt: „Gezielte Sanktionen sind der richtige Schritt, um die chinesische Führung in die Schranken zu weisen.“ Nun, einen solchen Schritt hat die chinesische Regierung mit ihrer Reaktion vollzogen, nämlich die Urheber der massivsten Hetze in die Schranken zu weisen.

Aber auch im wirtschaftlichen Bereich kann man über die EU-Sanktionen nur den Kopf schütteln. Gerade erst machten Meldungen die Runde, wie sehr China eine Stütze der unter der Pandemie schwer leidenden europäischen und deutschen Wirtschaft ist. Und nun dies! Man kann davon sprechen, dass die EU den Ast abzusägen beginnt, auf dem sie sitzt. Und es gibt auch die Redewendung: „Sich ins eigene Knie schießen.“ Vor allem aber – um auf die Eingangsworte zurückzukommen -: Sollen in der EU tatsächlich die Kräfte die Oberhand gewinnen, die die EU zu einem Wurmfortsatz der USA herabwürdigen wollen?

Dr. Michael Borchmann

Ministerialdirigent a.D. (Land Hessen), früherer Abteilungsleiter (Director General) Internationale Angelegenheiten

Mitglied des Justizprüfungsamtes Hessen a.D.

Senior Adviser der CIIPA des Handelsministeriums der VR China

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