Das Jahr 2020 und die Pandemie: Ein Stresstest für die Idee des Multilateralismus‘, aber auch starke Signale der Zuversicht

2020-12-07 09:40:20

„Um den Multilateralismus, also die regelbasierte Zusammenarbeit von Staaten, stand es schon vor der Corona-Pandemie schlecht“ – so war Mitte dieses Jahres auf der Homepage der Deutschen Botschaft in Brüssel zu lesen. Dabei umschrieb ein deutscher Diplomat den Begriff des „Multilateralismus‘“ wie folgt: „Es geht darum, dass wenigstens drei Staaten miteinander zusammenarbeiten, das wäre vielleicht die allereinfachste Definition, aber was wir eigentlich damit meinen, ist eine regionale oder sogar globale Zusammenarbeit zur Stärkung der regelbasierten Weltordnung, also dessen, was die Weltgemeinschaft in den letzten Jahrzehnten an Strukturen und internationalem Recht aufgebaut hat, die UNO an erster Stelle.“ Und zur eingangs angesprochenen Erosion des Multilateralismus‘ ergänzte ein Politikwissenschaftler, dieser Prozess habe sich nach Amtsantritt von US-Präsident Donald Trump dramatisch beschleunigt: „Der Austritt der USA aus dem Pariser Klimaschutzabkommen, Trumps Haltung in Fragen des Welthandels, seine tiefe Skepsis gegenüber Organisationen wie der NATO oder dem Forum der G7-Industriestaaten, die Kündigung des Iran-Abkommens, das Ende von Rüstungskontrollverträgen wie INF und Open Skys und die aktuellen Angriffe des US-Präsidenten auf die Weltgesundheitsorganisation, es sind samt und sonders Tiefschläge gegen den Multilateralismus.“

Und die sprunghafte weltweite Ausbreitung der Pandemie hat zwischenzeitlich zusätzlich Vorschläge der Abschottung und des Abbaus internationaler Lieferketten wuchern lassen. Der deutsche Bundeswirtschaftsminister verlieh im bereits im Frühjahr ds. Jahres dieser Sorge auf einer internationalen Konferenz sehr deutlich Ausdruck und erklärte, dass angesichts nationaler Alleingänge im Kampf gegen die Pandemie und vielerorts stockender Lieferketten in Politik und Unternehmen die Sorgen vor einem „riesigen Rückschlag“ wachsen würden. Die Globalisierung, so die Befürchtung, könne zurückgedreht werden, die Zeit des offenen Welthandels bald vorbei sein. Überstaatliche Vereinigungen wie die Europäische Union, die G20-Gruppe oder die Vereinten Nationen könnten an Einfluss verlieren. Und UN-Generalsekretär Antonio Guterres beschrieb den einzig möglichen Weg aus der Krise: „Multilateralismus und koordiniertes internationales Handeln sind heute von größerer Bedeutung als je zuvor.“ Ähnlich die Botschaft des deutschen Staatsministers im Auswärtigen Amt Annen in einer Zeitung: „Die Antwort auf Corona kann nur mehr internationale Zusammenarbeit sein.“

Und darüber hinaus gibt es vor allem zahlreiche Signale unterschiedlichster Akteure der Völkergemeinschaft selbst, die zusammen betrachtet Hoffnung und Zuversicht stärken: Viele haben erkannt, dass die Zukunft nur gemeinsam und mit enger Kooperation erfolgreich bewältigt werden kann.

So hatte der Vorsitz der G20 bereits am 26. März 2020 eigens zu einem elektronischen Vorgipfel eingeladen hatte, in dem die Staats- und Regierungschefs ihre Entschlossenheit zum Ausdruck brachten, Störungen des Handels und globaler Lieferketten zu minimieren, allen Ländern Hilfe zu leisten.

Und auch in der Folgezeit, etwa Mitte des Jahres, waren zahlreiche entsprechende Signale zu vernehmen. So beispielsweise aus der WTO, die sich in einer Konferenz mit Ministern der sogenannten „Ottawa-Gruppe“ (eines formlosen Zusammenschlusses langjähriger WTO-Mitglieder unter Vorsitz Kanadas) einig war: Der Wiederaufbau eines starken und effektiven multilateralen Handelssystems sei unausweichlich für die Überwindung der aktuellen Krise.

Die EU-Kommission legte im Zusammenhang mit der Krise dem EU-Parlament ein Positionspapier vor, in dem davon die Rede war, dass manche Experten die Coronavirus-Pandemie für einen Weckruf für Multilateralismus und für eine dringend notwendige Reform und Neubelebung der multilateralen Zusammenarbeit hielten, einem erklärten Ziel der EU-Außenpolitik gemäß den politischen Leitlinien der Kommissionspräsidentin für 2019. Und ebenfalls noch im Juni brachte die Kommissionspräsidentin anlässlich des virtuellen EU-China-Gipfel, bei dem es speziell zwar um Detailthemen ging, doch klar zum Ausdruck: „Die Covid Pandemie sowie zahlreiche bilaterale and multilaterale Herausforderungen zeigen deutlich, dass die EU - China Partnerschaft von fundamentaler Bedeutung ist, in so zentralen Bereichen wie Handel, Klima, Technologie und der Verteidigung des Multilateralismus.“ Im folgenden September knüpfte der „große“ Sondergipfel beider Seiten erneut an diese Gedanken an, in Übereinstimmung mit dem von Staatspräsident Xi Jinping vorab geäußerten Wunsch: China und die EU sollten an friedlicher Koexistenz, Offenheit und Zusammenarbeit, Multilateralismus sowie Dialog und Konsultation für eine solide und stabile Entwicklung ihrer Beziehungen festhalten.

Ebenso waren auch außerhalb des EU-China-Rahmens sehr vielversprechende Botschaften zu vernehmen. Genannt sei etwa der BRICS-Gipfel vom 17. November 2020, dessen Mitglieder sich klar für weitere Handelserleichterungen und eine Kräftigung des multilateralen Handelssystems aussprachen und sich damit in großer Übereinstimmung der Botschaft von Staatspräsident Xi befanden: Vor allem müsse man den Multilateralismus pflegen und Frieden und Stabilität in der Welt sichern. Die Geschichte lehre, dass Multilateralismus, Fairness und Gerechtigkeit Kriege und Konflikte fernhielten, während Unilateralismus und Machtpolitik Streit und Konfrontation förderten.

Ein ganz besonderer Ausdruck von praktischem Multilateralismus war jedoch, dass nach achtjährigen Verhandlungen am 15. November 2020 das „Regional Comprehensive Economic Partnership Agreement"-Abkommen (kurz: RCEP oder auf deutsch: Regionale, umfassende Wirtschaftspartnerschaft) offiziell unterzeichnet wurde. Damit wurde das weltweit größte Freihandelsabkommen geschaffen. Zu den teilnehmenden Ländern gehören die 10 Mitgliedsländer der Vereinigung Südostasiatischer Nationen sowie China, Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland. Das Abkommen sei „ein großer Schritt vorwärts in einer Zeit, in der der Multilateralismus an Boden verliert und sich das globale Wachstum verlangsamt“, erklärte der Premierminister von Singapur, Lee Hsien Loong. Und die Deutsche Welle kommentierte: „China und 14 andere Asien-Pazifik-Staaten haben es geschafft - und setzen mit dem Abkommen zugleich ein kraftvolles Zeichen gegen Trump'schen Protektionismus.“ Die Konferenz der Vereinten Nationen über Handel und Entwicklung (UNCED) schließlich hatte ebenfalls nur Lob zu vermelden: Das Abkommen werde die Lieferketten der regionalen Industrie stärken, die Auslandsinvestitionen stabilisieren und die Bildung eines neuen Entwicklungsmodells mit gegenseitiger Förderung der inländischen und internationalen Wirtschaftskreisläufe wirksam unterstützen.

In dieses positive Gesamtbild fügt sich schließlich das Ergebnis des G20 gerade 1 Woche nach Abschluss des RCEP ein. Der Gipfel sprach sich klar für das „multilaterale Handelssystem“ aus: „Wir streben an, das Ziel eines freien, fairen, gerechten, nicht diskriminierenden, transparenten, vorhersehbaren und stabilen Umfelds für Handel und Investitionen zu realisieren und die Märkte offen zu halten.“

Trotz aller Belastungen und krisenhaften Begleiterscheinungen des Jahres: Die Zukunft kann nur Multilateralismus heißen. Und die Völkergemeinschaft hat dies in großen Teilen erkannt.

Dr. Michael Borchmann

Ministerialdirigent a.D. (Land Hessen), früherer Abteilungsleiter (Director General) Internationale Angelegenheiten

Mitglied des Justizprüfungsamtes Hessen a.D.

Senior Adviser der CIIPA des Handelsministeriums der VR China

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