In den USA werden öffentlich jedes Jahr der neue Superstar, die beste Stimme und andere außergewöhnliche Talente gesucht. Seltener stehen sogenannte Schurkenstaaten auf dem Wunschzettel, gegen die dann auch gerne mal Krieg geführt wird.
Aber nur alle Jahrzehnte oder sogar nur einmal in einem Jahrhundert muss der neue Staatsfeind Nummer eins ermittelt werden, also das bedeutendste aller Feindbilder. Der Staatsfeind Nummer eins wird nie vom Publikum, also den US-Bürgern, ermittelt, sondern immer nur von einer verschworenen kleinen Jury. Manchmal gibt auch nur eine gewichtige und besonders laute Stimme den Ausschlag. Und je mehr US-amerikanische Journalisten und andere, die diese Einschätzung teilen oder einfach im gleichen Club wie die Jury sind, diesen neuen Staatsfeind weltweit verkünden bzw. ihn als einen solchen wortreich und wiederholt beschreiben, desto bekannter wird er und desto bedrohlicher kann er erscheinen.
Wer mit der Sowjetunion oder danach Russland als US-Staatsfeind Nummer eins aufgewachsen ist, muss sich nun umstellen. Es ist so weit: Die USA, oder sagen wir besser einige einflussreiche US-Amerikaner, haben ein neues Top-Feindbild. Die Anzahl und Intensität der realen und medialen Konflikte mit der Volksrepublik China lassen das ehemalige Reich des Bösen – Russland – im Zeitraffer verblassen. Die „gelbe Gefahr“ wird von einigen US-Politikern und Nato-Strategen wieder heraufbeschworen.
Was China für diese Kreise noch gefährlicher als Russland macht, ist seine enorme und weiter wachsende Wirtschaftsmacht sowie die vielen außenpolitischen Erfolge der Volksrepublik. Genau wie gegen Russland ist auch gegen China ein Krieg nicht möglich. Er ließe sich weder den Bürgern, noch den Verbündeten vermitteln. Zudem ist es heute gar nicht mehr so sicher, ob die USA ihn auch gewinnen würden. Zu schwer lassen sich mögliche Allianzen sicher prognostizieren und es gibt auch neue Waffensysteme, die den Analysten Kopfschmerzen bereiten. Und wer kann schon sicherstellen, dass ein mit konventionellen Waffen, die übrigens auch schon viel schlimmer sind, als viele glauben, geführter Krieg nicht irgendwann doch zum Atomkrieg wird?! Es gibt ja bereits gedruckte Gedankenspiele über den Einsatz von Mini-Nukes – dieser niedliche Ausdruck steht für kleine Atombomben, die vielleicht nur Zehntausenden Menschen auf einen Schlag das Leben kosten würden. Es wird niemand so bekloppt sein und einen solchen Krieg wagen, denke ich. Oder gibt es doch Kandidaten?
Bei der Einführung des neuen Staatsfeindes Nummer eins spielen zwar militärische Muskelspiele – mit und ohne Steroide – durchaus auch eine Rolle, aber vielmehr wird auf massenmedial noch verstärktes Rumbrüllen, Beschuldigen und auf wirtschaftliche Sanktionen sowie Vertragsverletzungen und fiese Fouls allgemein gesetzt. Und natürlich werden die Vorwürfe solange wiederholt, bis sie viele Menschen auch ohne jede Fakten und selbst ohne jede Begründungen für wahr halten.
Wer denkt, dass die Menschen heute nicht mehr so leichtgläubig sind und sich besser informieren, hat nur zum Teil Recht. Leider gibt es weltweit noch Millionen Menschen, die beispielsweise nie wussten oder es vergessen haben, dass es sich bei den angeblichen Beweisen für Iraks Massenvernichtungswaffen nur um eine Mär handelte, mit der ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg ermöglicht werden sollte. Es gibt Dutzende von Hollywoodfilmen, die den Irakkrieg als patriotische Heldentat beschönigten.
Andererseits misstrauen immer mehr Menschen Schuldzuweisungen und in letzter Zeit besonders denen einiger US-Politiker. Zu viele Indizien sprechen dafür, dass hier Leute von eigenem Versagen ablenken wollen oder einen wirtschaftlich starken globalen Mitspieler wie China Steine in den Weg legen wollen. Ob China-Virus-Framing, Huawei-Spionage-Vorwürfe oder die jüngsten Attacken auf Chinas außenpolitische oder sogar innenpolitische Handlungen – der Aufbau eines Feindbildes ist heute nicht mehr so einfach.
China mag der Staatsfeind Nummer eins für einige US-Kreise sein, aber die Mehrheit der US-Amerikaner wird auf dieses leicht durchschaubare Manöver nicht hineinfallen. US-Bürger haben andere Sorgen, sie sind bestimmt an einem starken Amerika interessiert, nicht aber an einem starken Feindbild, von dem sie sich nichts kaufen können und welches keines ihrer dringendsten Probleme lösen kann. Die übrige Welt ist auch viel mehr an Multilateralismus und einem gemeinsamen Vorankommen interessiert als an Tricks von vorgestern. Let’s make together America, China and the whole world great!
Text: Nils Bergemann