Plötzlich war ich mitten in einem Katastrophenfilm. Der Boden unter mir bebte zwar nicht und es regnete auch keine heiße Asche. Mir flogen weder Granaten um die Ohren noch musste ich Zombies mit Kopfschüssen niederstrecken. Die Bedrohung war unsichtbar, aber trotzdem allgegenwärtig. Ich erlebte in China meine erste Epidemie.
Meine Eltern und Freunde in Deutschland wünschten mir zum chinesischen Neujahrsfest am 25. Januar nicht nur alles Gute, sondern äußerten auch ihre Sorgen: "Hoffentlich hast du in Peking nichts mit dem Virus zu tun. Tragt ihr auch Masken?" Eine Maske trug ich inzwischen nicht nur im Supermarkt, sondern überall, wo viele Menschen aufeinandertrafen. Im Eingangsbereich meiner Firma wurde nun auch die Körpertemperatur gemessen.
Ich hatte Angst, da ich dieser jedoch nicht hilflos ausgeliefert sein wollte, begann ich, mich über das neuartige Coronavirus und die Situation in Wuhan zu informieren. Ich hielt es für eine gute Idee, Wuhaner direkt zu fragen, aber natürlich nicht vor Ort, sondern über die chinesische Kommunikationsapp Wechat.
Ergebnis dieser Interviews war nicht nur die zehnteilige Serie "Stimmen aus Wuhan", sondern auch ein tieferer Einblick in die chinesische Mentalität.
Auch meine Beklemmungen nahmen ab und ich behielt bei aufkommender Panik nun leichter die Oberhand. Der Grund dafür war simpel: Die Wuhaner waren in einer tausend Mal schlimmeren Situation als ich. Wie zum Beispiel die junge Krankenschwester Li, die jeden Tag mit Tod und Krankheit konfrontiert war, bis zur Erschöpfung an der medizinischen Front arbeitete. "Viele Mitarbeiter sind sogar extra zurückgekommen, obwohl sie eigentlich Urlaub nehmen dürfen", erzählte sie mir. Dieses selbstverständliche, freiwillige und bedingungslose Engagement für die Gemeinschaft ist keine Ausnahme, sondern offenbar eine kulturelle Eigenart der Chinesen. Wer denkt, dass China die Krise durch Zwangsmaßnahmen gemeistert hat, irrt. Es war eine gemeinsame Kraftanstrengung der gesamten Nation, die offenbar von Herzen kam. "Ich freue mich, dass es so viele nette und gutherzige Menschen gibt!", sagte mir auch Li. Ihre Nachbarn hätten gehört, dass sie auch während der Feiertage im Krankenhaus arbeite und, dass Schutzmasken knapp würden. "Sie sind zu mir gekommen, um mir ihre eigenen Masken zu schenken! Und schon zwei Mal fand ich vor meiner Haustür eine große Tüte. In den Tüten waren zum Beispiel Masken, Schokolade und Säfte. Und sie haben mir kleine Zettel geschrieben: 'Pass auf dich auf! Wuhan, gib Gas!' Das hat mich sehr berührt." Die 32-Jährige Krankenschwester erzählte, dass extra Experten zu ihrem Krankenhaus geschickt würden und der Bau zweier neuer Krankenhäuser geplant sei.
Über das, was ich hier direkt von Wuhanern erfuhr, las ich später selbst in verschiedenen Medien weitere Details, wie etwa über den Bau von Modulkrankenhäusern binnen Tagen, die Endsendung von zig Tausend medizinischen Fachkräften nach Wuhan in ähnlich kurzer Zeit, die unentgeltliche Behandlung aller Kranken und die absolute Priorisierung der Rettung von Menschenleben, egal welchen Alters. Diese ging so weit, dass China extreme Belastungen der Wirtschaft in Kauf nahm.
Die schnelle Abriegelung der ganzen Stadt Wuhan, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen, war ebenso eindrucksvoll und nur möglich, weil die Chinesen die Maßnahmen der Regierung nicht nur befolgten, sondern zusätzlich sogar noch mehr taten. So erzählten mir andere Wuhaner Interviewpartner, wie sie, nachdem der öffentliche Verkehr eingestellt werden musste, privat Fahrdienste für Krankenschwestern und Ärzte organisierten. Medizinische Fachkräfte konnten dann zudem unentgeltlich in arbeitsnahen Hotels übernachten.
Chinesen sind, so meine Erfahrungen, zumeist hilfsbereit, eher lösungs- als laberorientiert und angenehm entspannt. Sie vertrauten in der Krise auf den Erfolg der Regierungsmaßnahmen. Wahrscheinlich taten sie das auch, weil tatsächlich schnell gehandelt und informiert wurde.
Die 22-jährige Bahnmitarbeiterin Pan gehörte zu den Wuhanern, die sogar während der Krise im Büro arbeiteten. Obwohl sie später aus Sicherheitsgründen im Büro auf einem Sofa geschlafen hat, um nicht mehr heimfahren zu müssen und große Angst hatte, wollte auch sie ihren Beitrag leisten für die Gemeinschaft. Sie hat nie ihre Hoffnung verloren.
In Beijing gibt es heute, Anfang Mai, dank solcher engagierten und disziplinierten Menschen und einem guten staatlichen Krisenmanagement schon seit Wochen keine neuen Infektionen mehr. Ich kann die sonnigen Feiertage mit, sicherheitshalber, noch maskierten Menschenmassen im Park genießen. Ganz China läuft fast wieder normal. Das ist eben nicht der alleinige Erfolg einer Regierung oder eines Systems. Die Menschen in China haben es erst ermöglicht, weil sie mitgemacht haben.
Während der Gesundheitskrise mit dem raschen Rollenwechsel Chinas vom Hauptbetroffenem zum Ratgeber und Helfer ist mir Vieles klarer geworden. Ich denke, wir müssen wieder zum Wettstreit um das beste Argument zurückkehren. Wir müssen wieder mehr Wert auf das legen, was gesagt wird und nicht darauf, wer es gesagt hat. Und wir sollten grundsätzlich wieder Taten viel höher gewichten als Worte. Das würde es auch erleichtern, China zu verstehen. Warum geht es heute so vielen Chinesen gut, warum sind so viele so gebildet und schneiden bei internationalen Vergleichen in fast allen Bereichen immer besser ab? Warum stand China während der Gesundheitskrise so schnell wieder so gut da? Warum wollten während der Pandemie so viele Auslandschinesen nach China zurück? Ich denke, irgendwas muss China richtig gemacht haben.
Auch heute ängstigt mich dieses kleinige stachelige Corona-Mistvieh manchmal noch, obwohl es hier erfolgreich ausgehungert wurde. Und natürlich nervt mich meine Maske oft. Früher wähnte ich mich oft im falschen Film. Das geht mir zuweilen noch immer so, weil viele futuristische Sicherheitsvorkehrungen weiter bestehen. Aber heute freue ich mich manchmal sogar, dass ich diesen Katastrophenfilm am richtigen Ort erlebt habe.
Text: Nils Bergemann