Das Ende des Abwartens und Teetrinkens in Krisenzeiten

2020-03-17 11:00:25

Ich erinnere mich noch gut an die vielen besserwisserischen und bitterbösen Kommentare von Journalisten und Politikern in der Anfangszeit der Epidemie, in denen China Versäumnisse und Verzögerungen vorgeworfen wurden, ohne dass die Kritiker wussten, was wirklich dort gerade passierte.

China erlebte eine harte Zeit. Krankenschwestern und Ärzte behandelten Kranke, ohne sich selbst zu schonen. Tausende Infizierte mussten isoliert, Wuhan abgeriegelt werden. In Extraschichten wurden Masken und andere dringend benötigte medizinische Güter hergestellt, binnen Tagen provisorische Krankenhäuser errichtet.

Mit der Zeit änderte sich das Meinungsklima und weltweit waren sich nun die meisten Politiker und Journalisten einig, dass China diese Krise ziemlich gut bewältigt. Viele Experten sagten, Chinas Regierung verschaffe mit ihren schnellen, klugen und strikten Maßnahmen der ganzen Welt wichtige Zeit, um sich gut vorzubereiten.

Bald hatte China die Epidemie unter Kontrolle, aber in anderen Ländern stiegen die Zahlen explosionsartig an, weil viele Regierungschefs abgewartet und Tee getrunken hatten. Aber die meisten Journalisten gingen, obwohl das diesmal gerechtfertigt gewesen wäre, nicht an den großen Giftschrank neben ihrem Schreibtisch, um das Tintenfaß mit dem Totenkopfsymbol herauszunehmen und ihre Feder ins toxische Schwarz zu tunken. Giftige Kritik am verantwortungslosen Nichtstun von Regierungen blieb die Ausnahme.

Dabei war aus China schon alles bekannt, was man wissen musste, vom Verlauf der Krankheit und der Epidemie bis hin zu erfolgreichen Gegenmaßnahmen. Dr. Bruce Aylward, Teamleiter der China-WHO-Mission zur Erkundung der Epidemie hatte gesagt, dass sich Chinas Erfolg nur mit Schnelligkeit, Geld, Phantasie und politischem Mut in anderen Ländern wiederholen ließe.

Bei Bankenrettungen hatten die Regierungen tatsächlich diese Kriterien erfüllt. Nun passierte in vielen Ländern zunächst aber fast gar nichts, obwohl es um Menschenleben ging. Durch Infektionsschutzgesetze oder Notstandsverordnungen wären jederzeit auch drastische Maßnahmen möglich gewesen. Aber selbst viele Reden ließen Klugheit und eine Strategie vermissen. Bei einigen Politikern konnte man den Eindruck gewinnen, sie würden auf noch höhere Infektionszahlen warten, um sich dann mit strikten Maßnahmen als große Retter aufspielen zu können.

Es gab auch ruchlose Versuche von Politikern, ihr langes Nichtstun als Strategie zur Herstellung einer "Herdenimmunität" verkaufen zu lassen. So wurde wiederholt behauptet, es wäre gar nicht schlecht, wenn sich mindestens 70 Prozent der Menschen mit dem Virus infizierten. Dann wären am Ende so viele immun, dass sich die Krankheit kaum noch weiter verbreiten könnte. Es wurde sogar so getan, als könnte man das Ganze kontrolliert ablaufen lassen, ganz nach dem Motto: Heute wirst Du infiziert und morgen Der. Dabei konnten die meisten Politiker nicht einmal abschätzen, wie viele Menschen infiziert waren, weil sie kaum testen ließen.

Die Herdenimmunität sollte hier also nicht wie üblich durch einen Impfstoff erreicht werden, sondern durch ein für viele Menschen tödliches Virus. Mit so einem Freilandversuch würden das Leiden von Millionen und der Tod Hunderttausender in Kauf genommen, damit die Herde, gemeint ist hier das Volk, irgendwann weitestgehend immun ist. Bei dem nächsten Ausbruch eines neuen Virus müsste die Prozedur wiederholt werden. Im Grunde genommen wäre das eine Rückkehr zum "Überleben der Stärkeren" und das Aufgeben jeder staatlichen Verantwortung.

Zu diesem Menschen-Experiment wird es hoffentlich nicht kommen. Denn die sehr hohen Infektionszahlen haben einige Länder zum Handeln bewogen, was den Druck auf passive Regierungschefs so erhöht, dass nun auch die langsamen Politiker endlich effektive, in China erprobte Maßnahmen ergreifen. So sollen zum Beispiel zahlreiche öffentliche Einrichtungen und Geschäfte geschlossen werden. Auch Gottesdienst- und Einreiseverbote sind keine Tabus mehr.

Wenn sich jetzt aber Regierungschefs mit markigen Worten als große Krisenmanager inszenieren wollen, ist das nur peinlich, weil diese Show viele Wochen zu spät kommt. Diese Politiker haben mit ihrem ewig langen Abwarten und Teetrinken Menschenleben gefährdet. Das ist unverzeihlich!


Text: Nils Bergemann


Zur Startseite

Das könnte Sie auch interessieren