Anstatt eine Karriere als Masseurin anzustreben, wie es viele Sehbehinderte in China tun, will Ye Jingfen Ärztin werden.
Vor kurzer Zeit ist Ye über Nacht eine Internetberühmtheit geworden, als sie mit ausgezeichneten Noten bei der landesweiten Aufnahmeprüfung für das Postgraduiertenstudium von der Beijing Union University aufgenommen wurde. Im kommenden September wird sie von ihrer Heimat Lishui, einer kleinen Stadt in der südostchinesischen Provinz Zhejiang, in die Hauptstadt reisen, um ihr Masterstudium in der Traditionellen Chinesischen Medizin zu beginnen.
Es habe Jahre gedauert, bis sie einen Weg aus der Dunkelheit gefunden habe, erinnerte die 24-jährige Sehbehinderte. „Ich war nicht in der Lage, Dinge klar zu sehen und stolperte oft, als ich ein junges Kind war“, sagte Ye. Anfangs bemerkte sie die Unannehmlichkeiten nicht, da sie dachte, alle Menschen seien gleich.
Die Lehrerin in Yes Kindergarten organisierte oft Ballspiele. Allerdings war sie nie in der Lage, den Ball zu fangen. „Jedes Mal, wenn ich spürte, dass der Ball sich näherte, hatte ihn eines der anderen Kinder schon aufgefangen.“ Nachdem Yes Mutter von ihrer Verwirrung erfahren hatte, brachte sie die Kleine in ein lokales Krankenhaus.
Dort wurde bei Ye Retinitis pigmentosa diagnostiziert, eine unheilbare, degenerative Augenkrankheit, die zum vollständigen Verlust des Sehvermögens führen kann. Als sie vor ihrem behandelnden Arzt Wu Baile saß, sagte sie lächelnd: „Ich will Ärztin werden, wenn meine Sehkraft besser wird. Dann kann ich mehr Kinder heilen und mit ihnen Ballspiele spielen.“ Von ihren Worten berührt, half Wu ihr, eine Sonderschule in Hangzhou, Hauptstadt der Provinz Zhejiang, zu besuchen.
„Seit diesem Tag begann ein neues Kapitel in meinem Leben“, sagte Ye. Sie beherrschte die Blindenschrift in zwei Monaten und war fasziniert vom Lesen mit den Fingern. Während ihres zwölfjährigen Aufenthalts an der Sonderschule lernte sie auch, auf sich selbst aufzupassen, was in ihr die Hoffnung auf eine größere Welt weckte.
„In diesen zwölf Jahren ist die Welt vor meinen Augen allmählich verschwunden. Aber ich konnte spüren, dass der Weg in die Zukunft immer klarer wurde“, sagte sie.
2016 bestand Ye die Braille-Version der nationalen Hochschul-Aufnahmeprüfung und wurde von der Changchun Universität in der nordostchinesischen Provinz Jilin zugelassen, mehr als 2.000 Kilometer von der Heimat entfernt.
Während des Studiums in Changchun erlebte sie viele „Premieren“: Sie fuhr allein mit der U-Bahn und sogar mit dem Zug, hing in Einkaufszentren herum und trat einem Englisch-Club bei, was ihre Welt „viel bunter“ machte, sagte sie.
Während der Vorbereitung für die Aufnahmeprüfung des Master-Studiums stand Ye vor großen Herausforderungen. „Obwohl ich es gewohnt war, lange zu lernen, bereitete mir der Mangel an medizinischem Lernmaterial in Blindenschrift große Kopfschmerzen“, sagte Ye.
Die Stadtbibliothek von Longquan, einer Kreisstadt in ihrer Heimatstadt Lishui, löste ihr Problem. Mit Hilfe von unterstützenden Mitarbeitern wurden die Inhalte ihrer Lehrmaterialien vorgelesen oder von Maschinen in Blindenschrift gedruckt.
„Ye war so fleißig und kam in den letzten drei Monaten vor der Prüfung jeden Tag in unsere Bibliothek. Normalerweise verbrachte sie den ganzen Nachmittag hier“, sagte Bibliothekar Lu Junwei.
Trotz aller Hindernisse, die sich ihr in den Weg stellen, hat Ye nie aufgehört zu träumen: Nach ihrem Master-Abschluss will sie eine TCM-Ärztin werden, um ihren Patienten professionelle Diagnosen und Behandlungen zu geben. „Außerdem möchte ich mehr sehbehinderten Menschen helfen und ihr Leben erhellen, so wie die Menschen mir geholfen haben“, sagt sie.