Im Westen des Dorfes Lishi gibt es ein kleines Lebensmittelgeschäft, das aus zwei Räumen besteht. Im vorderen Raum werden Lebensmittel und Waren des täglichen Bedarfs zum Verkauf angeboten, während der hintere Raum voller Bücherregale ist. Hier sitzen in den Ferien und an Feiertagen häufig Kinder und lesen.
Li Cuili ist die Besitzerin des Geschäfts. Sie betreibt die kleine Bibliothek mit mehr als 4.000 Büchern bereits seit mehreren Jahren. Wie lokale Medien berichteten, habe sie damit im Landkreis Nehuang im Norden der zentralchinesischen Provinz Henan einen neuen Trend geschaffen.
Während der Ferien muss Li früher aufstehen als sonst. In den frühen Morgenstunden muss sich die 40-Jährige vor allem um die kleine Bibliothek kümmern, da bereits viele Kinder da sind. Ihr Laden ist dagegen noch fast wie ausgestorben.
Über ihre eigene Kindheit sagt Li Cuili: „Mein Opa erzählte gerne Geschichten und mein Vater las viel. Meine Kindheit und Jugend waren also geprägt von unzähligen Büchern und Zeitschriften. Ich habe meine Leselust von den älteren Generationen geerbt. Es war immer mein Traum, Schriftstellerin zu werden.“
Li Cuili sieht wie eine normale Landwirtin aus, doch ihre Worte vermitteln einen Hauch ihrer Stubengelehrsamkeit. Sie hat ihr Lebensmittelgeschäft im Jahr 2005 eröffnet. Damals hatte sie vor, sich in ihrer Freizeit dem literarischen Schaffen zu widmen.
Die Aufführung einer vulgären Band im Dorf hat ihre ursprünglichen Pläne jedoch ins Abseits gedrängt. Es war eine humorvolle, von Obszönitäten wimmelnde Darbietung, die sich zu ihrem Erstaunen bei den Dorfbewohnern äußerster Beliebtheit erfreute. Li Cuili bezeichnet die geschmacklose Lust der Dorfbewohner als „Verödung im Herzen“. Sie sagt, sie fühle sich verpflichtet, die Lesegewohnheiten der Dorfbewohner schrittweise zu verbessern. „Unser Dorf braucht wirklich eine gesunde kulturelle Atmosphäre“, so die 40-Jährige.
Sie kam daher auf die Idee, den hinteren Raum ihres Geschäfts zu räumen und die Regale mit Büchern zu füllen. Neben ihrer eigenen Büchersammlung hat sie in der Kreisstadt Hunderte alter Bücher gekauft. Es war der Beginn einer zwölfjährigen Werbekampagne, um das Interesse der Menschen im Dorf, vor allem der Kinder, für Bücher zu wecken.
Doch der Anfang war schwer. Da in Lishi nie eine Lernatmosphäre geherrscht hatte, wurde die kleine Bibliothek lange Zeit kaum besucht. Li Cuili wollte aber nicht einfach aufgeben. Sie war überzeugt, dass sie bei den Kindern einen Durchbruch erreichen konnte und entwickelte eine effiziente Belohnungsstrategie: Wer sich ein Buch auslieh, fand seine Neugier mit einem Bonbon belohnt. Bonbon für Bonbon zahlten sich ihre Bemühungen aus. Li erinnert sich: „Ganz am Anfang kamen die Kinder nur für die Bonbons in die Bibliothek. Im Laufe der Zeit wandte sich ihr Interesse aber mehr und mehr den Büchern zu.“ Die Leselust der Kinder steckte nach und nach auch die Erwachsenen an.
Inzwischen ist es auch in Lebensmittelgeschäften in den benachbarten Dörfern zum Trend geworden, Bücher und Zeitschriften in die Warenregale zu stellen. Die Zahl der ländlichen Läden, die kleine Bibliotheken betreiben, ist auf 27 gestiegen. Auch in zahlreichen Gaststätten, Krankenhäusern und Kindergärten in der Region ist heutzutage eine gemütliche Leseecke zu finden. Mehr als 300.000 Menschen haben davon profitiert.